Radikalisierung verhindern
28. Februar 2016Einen Tag nach seinem 18. Geburtstag im Juni 2013 reiste der junge Mann aus Antwerpen heimlich nach Syrien aus. Dort schloss er sich der Terrormiliz des "Islamischen Staates" an. Seine Mutter, Fatima, weiß nicht, ob ihr Sohn noch lebt. "Jeden Morgen wache ich auf und sage mir selbst, mein Sohn könnte tot sein. Oder lebt er noch? Jeden Tag weine ich. Jeden Tag", erzählt Fatima unter Tränen.
"Mein Leben ist wie ein Horrorfilm." Die letzte Kurznachricht ihres ältesten Sohnes hat Fatima vor zwei Monaten aus Syrien bekommen. "Ich habe überhaupt nichts davon mitbekommen, dass er sich radikalen Moslems angeschlossen hat. Nichts!", sagt Fatima der Deutschen Welle. Erst einige Tage nach dem Verschwinden ihres Sohnes hat Fatima einen Brief gefunden, in dem die Reise in den angeblichen Heiligen Krieg nach Syrien angekündigt wurde. "Dann habe ich der Familie gesagt, mein Sohn ist nach Syrien gegangen. Der Moment war wie ein Begräbnis für mich. Ich sagte mir, er ist tot. Das ist wirklich schwer. Er geht in den Krieg. Ich werde ihn nie wiedersehen."
Trauriger Rekord in Vilvoorde
Die radikalisierten Jugendlichen, die nach Syrien gehen, belasten ihre Familien und ihr ganzes Umfeld schwer, meint der Sozialarbeiter Moad el Boudaati aus Vilvoorde, einer Kleinstadt bei Brüssel.
In Vilvoorde haben 28 junge Männer sich dem "Islamischen Staat" angeschlossen. Damit hält der Ort einen traurigen Rekord nicht nur in Belgien, sondern in ganz Europa: Von hier aus sind, verglichen mit der Zahl der muslimischen Einwohner, die meisten Jugendlichen radikalisiert nach Syrien ausgereist. 2014 hat die Stadt dann die Notbremse gezogen und ein Projekt gegen Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen aufgelegt. Seither ist die Zahl von Ausreisen nach Syrien auf null gesunken.
Sozialarbeiter Moad el Boudaati erklärt, dass man sich jetzt um die Jugendlichen kümmere, versuche ihnen Arbeitsstellen und sinnvolle Freizeitangebote zu vermitteln. Außerdem werde mit den Jugendlichen auch über die wahren Inhalte des Koran gesprochen. Das überlasse man nicht mehr den Salafisten. "Die Moschee-Gemeinde hat eingeräumt, das sie Fehler gemacht hat. In der Vergangenheit haben sie sich nicht um Jugendliche gekümmert. Jetzt bieten sie Religionskurse an. Wenn man Fehler zugibt, kann man etwas verändern", so Moad el Boudaati im DW-Interview. Sein bester Freund ist vor einigen Jahren nach Syrien gegangen und dort getötet worden. Jeder junge Moslem in Vilvoorde kenne jemanden, aus dessen Familien jemand in den Krieg gezogen sei. Inzwischen gibt es ein engmaschiges Netzwerk zur Frühwarnung, das auch die Lehrer in Grundschulen einschließt.
"Das ist wie eine Sekte"
Nur, wenn man ganz nahe an den Menschen arbeite, habe man eine Chance auf Erfolg, glaubt auch der Bürgermeister von Mechelen, einer mittelalterlichen Kleinstadt zwischen Brüssel und Antwerpen. Bart Somers hat schon sehr früh, früher als Vilvoorde, Antwerpen oder Brüssel, auf Vorbeugung gesetzt. "Wir haben Glück gehabt", sagt er im Gespräch mit der Deutschen Welle. Aus Mechelen ist bis heute kein einziger junger Moslem nach Syrien oder in den Irak gegangen, um sich radikalen Terrorgruppen anzuschließen. "Man muss in einer sehr frühen Phase die Menschen finden, die radikalen, extremen Ideen zuneigen", erklärt Bürgermeister Somers sein Konzept. "Dann muss man Personen aus dem Umfeld finden, denen diese Menschen vertrauen und mit denen sie reden. Eine Isolation der Menschen muss verhindert werden. Das funktioniert so ähnlich wie bei einer Sekte, die ja auch versucht, die Opfer zu isolieren, von ihrer Familie abzuschotten. Wir wollen helfen, wieder eine Verbindung zur Gesellschaft herzustellen."
Die Polizei von Mechelen ist eng in die Vorbeugungs-Strategie eingebunden. Mit "Nachbarschafts-Polizisten", die die Menschen vor Ort einschätzen und Probleme früh erkennen können, arbeitet Yves Bogaerts, der Polizeichef von Mechelen. Gefährdete Jugendliche werden jede Woche von der Polizei besucht oder zu Befragungen aufs Revier gebeten. "Was uns fehlt, sind Polizisten, die aus der muslimischen Bevölkerung stammen", sagt Yves Bogaerts. Deshalb versucht er gezielt, Polizeibeamte mit Migrationshintergrund anzuwerben. Bei der Vorbeugung gegen Radikalisierung gehe es nicht nur um Islamisten, sondern auch um die Radikalisierung von Jugendlichen durch Neo-Nazis, meint Polizeichef Bogaerts.
Mechelen kämpft gegen Ideologen
Man müsse sich klar machen, warum Menschen, die in Belgien geboren worden seien und in den Schulen demokratisch erzogen worden seien, sich dennoch extremem, totalitärem Gedankengut zuwenden, glaubt Mechelens Bürgermeister Bart Somers. Den Faschismus der 1930er Jahre und den Islamismus oder Salafismus heute könne mach durchaus vergleichen. "Wir müssen verstehen, dass dies kein Kampf gegen eine Religion, sondern gegen eine Ideologie ist. Die Gefahr lauert ständig an jeder Ecke. Es ist ein politischer Kampf zwischen Humanität und Demokratie auf der einen Seite und Totalitarismus auf der anderen Seite. Wir müssen um die Köpfe und Herzen unserer Jugendlichen kämpfen."
Die Stadt Mechelen ist inzwischen eine multikulturelle und multireligiöse Stadt. Das müsse man einfach aktzeptieren, glaubt der langjährige Bürgermeister. Auch die Moschee-Gemeinden hätten die Gefahren erkannt und würden gut kooperieren. "Wir pflegen eine offene und vertrauensvolle Beziehung. Die Moscheen in meiner Stadt arbeiten sehr hart daran, eine Radikalisierung zu verhindern. Mehr noch: Ich versuche, die Menschen nicht nur als Moslems, sondern als Bürger meiner Stadt zu sehen."
"Ich war sehr wütend"
In anderen belgischen Städten ist die Vermeidung von Radikalsierung nicht so erfolgreich. Fast 500 Belgier sind als "foreign fighter" in Syrien. Etliche kehren auch wieder nach Belgien zurück. "Das ist natürlich eine Gefahr", sagt der Polizeichef von Mechelen, Yves Bogaerts. Viele sammelten sich dann in größeren Städten wie Brüssel und Antwerpen. Gemeinden wie Molenbeek in Brüssel hätten die Gefahr erst spät erkannt und würden jetzt bei der Bekämpfung von Terroristen hinterherhinken. "In Brüssel", so Bogaerts, "ist es immer noch leicht unterzutauchen".
Fatima, die Mutter eines "foreign fighters", engagiert sich zweieinhalb Jahre nach der Ausreise ihrer Sohnes nach Syrien, in Programmen gegen Radikalisierung. Sie erzählt einfach ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Familie. "Das fällt mir nicht leicht", sagt sie der Deutschen Welle. Obwohl sie täglich um das Leben des ältesten von drei Kindern fürchtet, will sie zeigen, dass ihr Sohn falsch gehandelt hat. Sie sei auch wütend auf den inzwischen 20 Jahre alten Mann. Bei einem Telefongespräch kurz nach seiner Ausreise hat sie ihm vorgehalten, was er ihr angetan habe. Sie sei quasi tot. "Und er antwortete, er habe es für mich getan. Denn wenn er stürbe, würden wir uns im Himmel wiedersehen. Ich sagte ihm, ich bringe dich persönlich zur Hölle. Im Islam musst du deine Eltern achten. Du machst mich sehr traurig."