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Immer schneller Dschihadist

Matthias von Hein4. März 2016

Eine neue Studie von BKA und Verfassungsschutz untersucht, welche Deutschen sich beim IS einreihen. Kriminalwissenschaftler Daniel Heinke im DW-Gespräch über schnelle Radikalisierung, hohen Frauenanteil und Getötete.

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Silhuette mehrerer Islamisten, die ihre Sturmgewehre in den Himmel recken (Foto: Colourbox)
Bild: Colourbox/krbfss

DW: Am Oberlandesgericht in Düsseldorf und anderen Gerichten in Deutschland wird nahezu im Wochentakt ein Prozess gegen Rückkehrer aus den Reihen des sogenannten "Islamischen Staates" eröffnet. Wenn wir von diesen verhandelten Einzelfällen absehen - was wissen die Sicherheitsbehörden über Personen, die in den "Dschihad" reisen?

Daniel Heinke: Wir gehen im Moment davon aus, dass mehr als 800 Personen aus islamistischer Motivation die Bundesrepublik Richtung Syrien oder Irak verlassen haben. Wir konnten am Stichtag 30. Juni 2015 zu insgesamt 677 Personen tatsächlich vergleichsweise viele personenbezogene Daten zusammentragen. Die konnten wir in unserer Studie auch übergreifend auswerten, so dass wir jetzt glauben, ein vergleichsweise gutes Bild davon zu haben, was für eine Personengruppe das ist.

Was lässt sich denn aus den Daten über die Radikalisierungsprozesse ableiten?

Wir haben festgestellt, dass ungefähr die Hälfte aller Ausreisenden sich in gerade mal einem Jahr oder weniger radikalisiert hat - fast ein Viertel aller Ausreisenden innerhalb von sechs Monaten. Das bricht mit Vermutungen aus früheren Zeiten, dass das ein eher langsamer Prozess sei. Es sind zunehmend vergleichsweise kurze Prozesse, wo es dann auch sehr schnell zu dieser Eskalation, zur Ausreise kommt.

Was das Umfeld angeht: Es hat in der Vergangenheit viele Theorien gegeben, dass das Internet einen sehr starken Einfluss hat. Das ist sicherlich nicht zu verleugnen. Aber es ist immer noch so, dass der unmittelbare Bezug zu anderen Personen der entscheidende Faktor ist.

Portrait Dr. Daniel Heinke (Foto: Heinke)
Forscht zu Terrorismus und Extremismus: Daniel HeinkeBild: Heinke

Der Berichterstattung der Medien kann entnehmen, dass der Anteil der Frauen, die sich in das IS-Gebiet begeben, relativ erscheint. Was wissen Sie über die Altersgruppen und über die Geschlechterverteilung der Dschihadisten?

Da ist das Ergebnis unserer Studie wirklich erstaunlich: Im Moment sind über ein Fünftel der Ausreisenden weibliche Personen. Das ist an sich schon hoch. Noch spannender wird es, wenn man die Phase nach der Ausrufung des Kalifats durch den sogenannten "Islamischen Staat" am 29. Juni 2014 betrachtet: Nach diesem Stichtag ist der Anteil der weiblichen Ausreisenden auf 38 Prozent gestiegen. Das ist überaus hoch und das muss man viel mehr in den Blick nehmen, als das es in der Vergangenheit passiert ist.

Wissen Sie denn, warum es so viele Frauen zum IS zieht?

Das ist noch nicht im Detail erforscht. Bislang haben die Sicherheitsbehörden sich schwerpunktmäßig auf die männlichen Ausreisenden konzentriert, weil von denen die unmittelbar größere Gefahr ausging. Die ausreisenden Frauen nehmen äußerst selten an Kampfhandlungen teil, sondern dienen in erster Linie dem Aufbau des "Islamischen Staates" und unterstützen die Kämpfer vor Ort. Gleichwohl sind sie ein ganz gefährlicher Nukleus für weitere Radikalisierungen, wenn sie nach Deutschland zurückkehren - genau wie ihre männlichen Gegenparts.

Desillusionierte - Traumatisierte - Kämpfer

Wie viele von den über 800 Dschihad-Reisenden, von denen Sie eingangs sprachen, sind denn nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden wieder nach Deutschland zurückgekehrt?

Die Sicherheitsbehörden gehen im Moment davon aus, dass ungefähr ein Drittel aller ausgereisten Personen zwischenzeitlich wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind, also rund 260. Bei 70 Rückkehrern ist bekannt oder wird wenigstens stark vermutet, dass sie Kampferfahrungen oder zumindest eine militärische Ausbildung bekommen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass noch weitere Rückkehrer unerkannt mit den einreisenden Flüchtlingen ins Land gekommen sind.

Der Terrorismusexperte Peter Neumann teilt die Rückkehrer in drei Gruppen ein: Einmal die Desillusionierten, die zurückkehren und sagen: "Das haben wir uns anders vorgestellt und das ist wirklich nicht das, was wir erreichen wollten." Die sind möglicherweise offen für eine Deradikalisierung. Zweitens gibt es die verstörten Personen, die aufgrund traumatischer Belastungen psychologische und psychiatrische Hilfe benötigen. Und drittens gibt es jene, die weiter entschlossen am Kampf festhalten. Auf diese Gruppen müssen die Sicherheitsbehörden, aber auch die anderen Behörden, jeweils spezifisch reagieren. Das heißt, Gefahren abwehren, aber auch den hilfebedürftigen Menschen Hilfe anbieten und sie möglicherweise als glaubwürdige Zeugen bei Präventionsmaßnahmen einsetzen.

Wie viele Reisende ins syrische Bürgerkriegsgebiet werden für immer dort bleiben, weil sie im Kampf umgekommen sind?

Die Sicherheitsbehörden in Deutschland gehen davon aus, dass ungefähr 130 Islamisten aus Deutschland dort unten getötet worden sind. Entweder bei Kampfhandlungen oder bei Selbstmordeinsätzen.

Dr. Daniel Heinke forscht und arbeitet an am Bremer Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung.

Das Interview führte Matthias von Hein.