Jagd auf Aktivisten der Zivilgesellschaft
7. Oktober 2022"Das Internet ist immer noch sehr langsam, ich fühle mich von der Welt ausgeschlossen." - "Diesmal funktionieren auch VPN-Verbindungen nicht." -"Nachrichtendienste wie WhatsApp oder Signal sind gesperrt." Internetuser aus dem Iran berichten über weitreichende Netz-Blockaden. Mit Skype kann man seit Anfang Oktober kostenlos in den Iran anrufen, aber umgekehrt funktioniert das nicht. Auf den Straßen in Teheran sei es tagsüber ruhiger gewesen, berichten Bewohner. Im Iran ist gerade ein verlängertes Wochenende: Mittwoch war ein Feiertag, Donnerstag und Freitag gelten als Wochenende. Mit Beginn am Samstag, wenn Schüler und Studenten wieder unterwegs sind, kann es erneut zu Protestaktionen kommen.
Um das zu verhindern, verhaften Polizei und Sicherheitskräfte momentan willkürlich Aktivisten der Zivilgesellschaft. Am Mittwoch wurde Amir Mirmirani festgenommen. Der Programmierer ist unter dem Namen "Jadi" bekannt und gilt als bekanntester Tech-Blogger im Iran. Seit mehr als zehn Jahren produziert er einen Podcast und verbreitet Tipps zum Programmieren, über die Gründung von Start-ups, die Nutzung von Datenbanken und das sichere Surfen im Internet. 2021 wurde "Jadi" sogar mit dem iranischen Nationalpreis für die Verbreitung von Wissen geehrt.
Vom Preisträger zum Staatsfeind
Laut seiner Schwester haben Sicherheitskräfte sich unter einem Vorwand Zutritt zu seiner Wohnung verschafft. Sie hätten zuerst geklingelt und behauptet, im Auftrag der staatlichen Gasbehörde seinen Anschluss überprüfen zu wollen. Sobald die Tür geöffnet wurde, hätten sie Amir Mirmirani gewaltsam mitgenommen, ohne einen Haftbefehl vorzuweisen. "Jadi" hat seine Kritik an den jüngsten Internet-Blockaden offen in Youtube-Videos geäußert. Er gehört zu den wenigen Experten, die die Pläne der Staatsmacht für die "Nationalisierung" des Internets nicht unterstützten. Fünf dieser bekannten IT-Experten wurden in den vergangenen Tagen festgenommen.
Mit der Nationalisierung des Internets will der Staat das Internet im Iran zu einer Art Intranet umbauen, das ausschließlich Zugang zu iranischen Webseiten ermöglicht. Diese digitale Isolation würde es Journalisten innerhalb und außerhalb des Landes massiv erschweren, ein klares Bild von Ereignissen vor Ort zu bekommen und Informationen zu verifizieren. Zum Beispiel, wenn wie jetzt Protestwellen das Land erschüttern.
Seit dem Tod von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam vor drei Wochen protestieren Iraner. Die 22-jährige Kurdin war nur zwei Stunden nach ihrer Verhaftung wegen eines Verstoßes gegen die Kleidungsvorschriften leblos ins Krankenhaus eingeliefert worden. "Herzstillstand", behauptet die Polizei. "Hirntod und ohne Lebenszeichen, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde", stand in der Stellungnahme des Krankenhauses, die auf Instagram veröffentlicht und später entfernt wurde.
Journalisten, die den Fall bekannt gemacht haben, wurden verhaftetet. Aber nicht nur sie. Festgenommen wurden auch diejenigen, die in der Vergangenheit die Berichterstattung über Protestwellen im Iran unterstützt haben. Zum Beispiel die Fotojournalistin Yalda Moaiery. Sie arbeitet von Teheran aus für bekannte internationale Medien wie "The Times", "Bloomberg" oder "Le Figaro". Bis zum 4. Oktober seien mindestens 35 Journalisten im Iran verhaftet worden, berichtet das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ), eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York.
Protest aus neuen Quellen
Die Liste der öffentlich bekannten Inhaftierungen ist viel länger. Darauf stehen Fußballspieler, Sänger, Studierende, Filmschaffende und vor allem Frauenaktivistinnen. "Die Welle der Verhaftungen hat in Kurdistan angefangen, kurz nach der Beerdigung von Mahsa", sagt Asieh Amini (nicht verwandt - Red.) im Gespräch mit der DW. Die im Iran gute vernetzte Autorin und Frauenaktivistin lebt im Exil in Norwegen. Sie hat eine Liste von in den vergangenen drei Wochen inhaftierten Frauenaktivistinnen erstellt.
Dazu gehört auch Bahareh Hedayat, sie wurde am 3. Oktober festgenommen. Die 41-Jährige war in den vergangenen 13 Jahren nach der Protestbewegung von 2009 wiederholt verhaftet worden und saß wegen ihres friedlichen Einsatzes für mehr Demokratie im Iran insgesamt sieben Jahren im Gefängnis. Zu den aktuellen Protesten hatte sie sich öffentlich nicht geäußert.
"Meiner Meinung nach verhaften die Sicherheitskräfte einfach landesweit alle bekannten Frauenaktivistinnen. Sie haben nicht begriffen, dass Proteste, wie wir sie jetzt erleben, sich nicht von altbekannten Gesichtern beeinflussen lassen", führt Amini aus. "Die jungen Leute, die auf die Straßen gehen, entscheiden selbst in kleineren Gruppen, wann und wo sie sich treffen werden. Deswegen ist es auch schwierig, sie unter Kontrolle zu bringen."
Laut einem Bericht der Zeitung "Javan", die den Revolutionsgarden nahesteht, sind 90 Prozent der Demonstranten unter 25 Jahre alt. "Javan" beschimpft sie als eine neue Generation von "Krawallmachern". Irans politischer und geistlicher Führer Ali Chamenei bezeichnete die Proteste als vom Ausland gesteuerte Verschwörung. "Die Staatsmacht weigert sich, die Menschen und ihre Wut zu verstehen, ihre Antwort ist Unterdrückung", sagt Asieh Amini.
Wie viele Anhänger der Protestbewegung bis heute getötet oder verhaftet wurden, ist offiziell nicht bekannt. Nach Angaben der Organisation Iran Human Rights (IHR) wurden bis 4. Oktober mindestens 154 Menschen getötet, viele durch Schüsse.