Iran - Gewinner im Nahost-Machtpoker?
19. Oktober 2019Militärisch sind die USA aus Nordsyrien abgezogen, doch diplomatisch sind sie noch präsent. Nach Gesprächen mit US-Vizepräsident Mike Pence erklärte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu einer fünftägigen Feuerpause in der Region bereit. Zwar haben die kurdischen Milizen von deren Ausdehnung eine andere Vorstellung als das Kabinett in Ankara. Aber die Vereinbarung steht, vorangetrieben wesentlich durch die Amerikaner.
Offen ist, ob der Waffenstillstand halten wird. Offen ist auch, ob das Weiße Haus die Mission des Vizepräsidenten als Anlauf zu einem neuen Engagement oder - im Gegenteil - als letzten Auftritt versteht, der den Rückzug der USA aus Syrien zumindest nicht als völlig überstürzt aussehen lassen soll. Sicher ist aber, dass die USA ihr Engagement auf eine Weise reduziert haben, die längst eine Kettenreaktion ausgelöst hat, in deren Verlauf nun neue Bündnisse und politische Machtzentren entstehen. Und kein Land in der Region zeigt so deutlich wie der Iran den Willen, diese Chancen zu nutzen.
Neue Selbstsicherheit
Nachdem am 14. September Raketen eine saudische Raffinerie bei Abkaik getroffen hatten, machten Saudis und Amerikaner den Iran für den Angriff verantwortlich. Der bestritt die Anschuldigung zwar, konnte aber die Zweifel seiner Kritiker nicht zerstreuen. Eines liege aber auf der Hand, so die israelische Zeitung "Haaretz": Wenn die Regierung in Teheran den Beschuss befahl, dann aus einem Gefühl enormer Selbstsicherheit heraus: "Iran griff Saudi-Arabien nicht nur an, weil es eine neue Politik oder neue Waffen hat, sondern weil es sah, dass Trump seinem Verbündeten keinen ernsthaften Beistand leisten würde."
Die Lockerung des saudisch-amerikanischen Militärbündnisses deutet sich seit Längerem an. Dass die in die Golfregion geschickte US-Flotte sich so ruhig verhalten würde, schien in Teheran offenbar absehbar. Sehr genau hatte man dort registriert, dass die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi wie auch der Krieg im Jemen das Königreich im amerikanischen Kongress massiv Sympathien gekostet haben.
Kein Konzept für Syrien
Mit scharfem Blick verfolgt der Iran die amerikanischen Schwächen auch in Syrien. Aus der Sicht Teherans liegt es auf der Hand: Die USA haben in dem kriegszerrissenen Land kein klares Konzept. Sie muten sich zu viel zu. Zum einen wollte die US-Regierung - damals noch unter Barack Obama - Präsident Baschar al-Assad stürzen. Zugleich wollten sie die Terrororganisation "Islamischer Staat" und andere dschihadistische Gruppen besiegen. Und als Fernziel schwebte Washington ein zumindest im Ansatz demokratisiertes Syrien vor.
Allerdings übersah man im Weißen Haus, dass eine große Zahl dieser Dschihadisten in den Kerkern des Assad-Regimes schmorten. Als der Aufstand des Jahres 2011 übermächtig zu werden drohte, öffnete der syrische Präsident die Türen dieser Kerker - und brachte die USA dazu, sich vor allem auf den Kampf gegen die Dschihadisten zu konzentrieren.
Ganz anders ging der Iran vor. "Wenn Russland und Iran wie Sieger aussehen, so vor allem darum, weil sie von Anfang an eine geschicktere Strategie verfolgten", heißt es in der Washingtoner Zeitschrift "Foreign Policy". "Russland und Iran hatten von Anfang an ein klares, begrenztes und umsetzbares Ziel: Assad an der Macht zu halten."
Die Begrenzung erwies sich als sinnvoll: Assad ist weiterhin im Amt. Und Russland und der Iran sind im Iran präsent und bis auf weiteres nicht mehr wegzudenken - auch und vor allem nicht als meist unsichtbare politische Akteure im Präsidentenpalast von Damaskus.
Entscheidungsmacht auch in Damaskus
Dort haben sie ein Wort mitzureden bei Entscheidungen, die auch auf Europa massive Auswirkungen haben. Wie geht Assad mit der syrischen Bevölkerung um? Wen lässt er in Ruhe, wen bedrängt er? Wie wird er sich etwa gegenüber den Kurden verhalten, die sich mit der Bitte um Schutz gegen die Türkei an ihn gewandt hatten? Wird er rücksichtsvoll mit ihnen umgehen oder sie, die über Jahre die nördlichen Landesteile besetzt hielten, seine Härte spüren lassen?
An Fragen wie dieser entscheidet sich für Hunderttausende auch der Entschluss zur Flucht nach Europa. Und über diese Fragen wird zumindest in Teilen auch das Regime in Teheran mitentscheiden.
Zwar dürfte der Iran als Schutzmacht in Syrien nur bedingt willkommen sein. Andererseits ist er die treibende Kraft in der Dämonisierung Israels - ein Feldzug, auf den sich absehbar auch al-Assad wieder begeben könnte. Der propagierte Hass auf den jüdischen Staat hat sich über Jahrzehnte als verlässliches Instrument erwiesen, die eigenen Reihen zu schließen und zusammenzuschweißen.
Aufruf zum Dialog
Auf Grundlage dieser militärischen Stärke kann sich Iran einen freundlichen Umgang mit seinen Nachbarn in der Region leisten. "Wir wollen Freunde mit allen Ländern der Region sein", zitierte vor wenigen Tagen die iranische Nachrichtenagentur SHANA Bijan Zangane, den Ölminister des Landes. "Unser aller Feind befindet sich außerhalb des Nahen Ostens."
Gemünzt ist das auf die USA. Zwar dürften sich die wenigsten arabischen Staaten einer solch extremen Sicht anschließen. Aber ihre Regierungen dürften seit einigen Wochen und Monaten verstärkt darüber nachdenken, ob ihre teils guten Beziehungen zu den USA auch in Zukunft Bestand haben. Kommen sie zu dem Ergebnis, dass dies nicht mehr oder nur bedingt der Fall ist, dürften sie sich neu orientieren. Iran stünde als möglicher Ansprechpartner bereit.