Kritik an der deutschen Inklusion
21. März 2014Ein animiertes Flugzeug aus Pappe umkreist eine Weltkarte und steuert dann auf Schweden, Kanada und andere Länder zu. Kaum "landet" das Flugzeug auf dem Land, poppt dort ein Video auf, das eine Schule vor Ort zeigt, wo Inklusion - gemeinsamer Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder - bereits gelebt wird. In Deutschland hingegen lässt sich das Flugzeug nicht nieder. Der Kurzfilm, der zur Eröffnung des UNESCO-Inklusionsgipfels in Bonn gezeigt wurde, macht deutlich, dass Inklusion in Deutschland noch nicht angekommen ist. Auf der zweitägigen Veranstaltung berieten in dieser Woche rund 350 Politiker, Schulträger, Bildungsakteure und Wissenschaftler darüber, wie das geändert werden kann.
Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Damit darf kein Kind mit geistiger oder körperlicher Behinderung von einer Regelschule ausgeschlossen werden. Die Realität aber sieht in Deutschland anders aus. Etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche sind behindert, doch nur jeder Vierte geht auf eine reguläre Schule. Im Vergleich zu vielen anderen OECD-Staaten hinkt Deutschland bei der Entwicklung eines inklusiven Bildungswesens hinterher.
Vorbilder kommen aus Skandinavien
"Aktuell ist Deutschland neben Belgien europäisches Schlusslicht", sagt Walter Hirche, Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission. In der EU leben insgesamt rund 15 Millionen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Im europäischen Durchschnitt besuchen etwa zwei Prozent aller Schüler Sonderschulen oder Förderschulen.
In Norwegen und Schweden hingegen beträgt dieser Anteil weniger als ein Prozent der Schüler. "Die Schulsysteme wurden in Skandinavien vor Jahrzehnten auf langes gemeinsames Lernen umgestellt. Förderschulen sind dort so gut wie abgeschafft", erklärt Ute Erdsiek-Rave, Vorsitzende des Expertenkreises "Inklusive Bildung" der Deutschen UNESCO-Kommission, den Unterschied. Die Konzepte ließen sich jedoch nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. "Wir müssen unseren eigenen Weg finden", fordert Erdsiek-Rave.
Gravierende Unterschiede in den Bundesländern
Doch das ist gar nicht so einfach, denn in Deutschland gibt es im Gegensatz zu vielen anderen Staaten ein Bildungssystem, das Kinder je nach Begabung und Leistung auf verschiedene Schulen sortiert. Außerdem entscheidet jedes Bundesland selbst, wie es seine Schulpolitik gestaltet. Während der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern in Bremen und Schleswig-Holstein schon in über der Hälfte der Schulen stattfindet, werden in Niedersachsen nur elf Prozent der Förderschüler in einer Regelschule unterrichtet.
In ganz Deutschland aber gibt es Schulen, die schon lange mit gutem Beispiel vorangehen. In der Erich Kästner Schule in Hamburg etwa lernen seit 20 Jahren Kinder mit und ohne Behinderung. Für ihr Konzept wurde die Schule im Januar mit dem Jakob-Muth-Preis für "vorbildlichen inklusiven Unterricht" ausgezeichnet. An der Oberschule Koblenzer Straße in Bremen werden sogar hochbegabte Kinder gemeinsam mit Förderschülern unterrichtet. Insgesamt aber gibt es laut Ute Erdsiek-Rave noch zu viele Vorbehalte. "Zu starr war und ist die Überzeugung, dass die schwachen Kinder die starken Kinder beim Lernen behindern."
Recht auf inklusive Bildung noch unvollständig
Schlechte Noten verteilen auch die Autoren der Studie "Inklusive Bildung: Schulgesetze auf dem Prüfstand" vom Deutschen Institut für Menschenrechte, die auf dem UNESCO-Gipfel vorgestellt wurde. "In vielen Bundesländern sind zwar nicht unerhebliche Änderungen und Anpassungen des Landesschulrechts vorgenommen worden, aber kein Land erfüllt alle im Recht auf inklusive Bildung angelegten Kriterien", so das Urteil der Experten.
"Bund, Länder und Kommunen müssen künftig an einem Strang ziehen", fordert Ute Erdsiek-Rave. Doch genau hier liegt das Problem. Inklusion kostet viel Geld. Lehrer und Sonderpädagogen müssen aus- und fortgebildet, Schulgebäude behindertengerecht umgebaut werden. Derzeit streiten die Städte als Schulträger mit ihren Landesregierungen und der Bundesregierung über die Kosten. Viele Kommunen in Deutschland sind verschuldet und fürchten, die Inklusion weitgehend alleine stemmen zu müssen.
Gute Bildung kostet Geld
Mit bis zu 550 Millionen Euro nur für die Einstellung neuer Lehrer rechnet der Bildungsökonom Klaus Klemm. Er hat für die nordrhein-westfälische Landesregierung jüngst ein Gutachten veröffentlicht. "Wir müssen viel Geld in die Fortbildung der Lehrer stecken", meint er gegenüber der DW. Und wer soll das bezahlen? "Wir gehen von einem Rückgang der Schülerzahlen in Deutschland aus", sagt Klemm. Dadurch stehe mehr Lehrpersonal zur Verfügung, das für die Umsetzung der Inklusion eingesetzt werden könne.
Doch genau gegen diese "Inklusion zum Billigtarif" laufen Schulen und Gewerkschaften in Deutschland Sturm. Um sowohl die behinderten als auch nicht-behinderten Schüler optimal fördern zu können, fordern Lehrer kleinere Klassen und für jede Klasse einen Sonderpädagogen. "Gute Bildung kostet Geld, aber es ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes", betont Erdsiek-Rave.