Inklusion umgekehrt
29. August 2013Leila, Peggy, Lara und Melina sind eigentlich ganz normale Realschülerinnen. Allerdings gilt das nur für vier Tage in der Woche. Denn dienstags sind die vier Mädchen nicht um acht Uhr in ihrer Klasse an der Kölner Otto-Lilienthal-Realschule, sondern sie haben Unterricht in einer Förderschule für geistig behinderte Kinder. Ganz selbstverständlich setzen sie sich an die Tische neben Marie, Kristian oder Mert, die hier jeden Tag zur Schule gehen. Lehrerin Christine Schmidt verteilt die Aufgaben. Bald schon knobeln Real- und Förderschüler gemeinsam an Rechenaufgaben oder arbeiten am Computer.
Die ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen der Otto-Lilienthal-Realschule und der benachbarten Pestalozzischule entstand vor zwei Jahren. Seitdem werden alle Realschüler, die ab der siebten Klasse das Fach Sozialpädagogik wählen, in diesem Fach ausschließlich unter dem Dach der Förderschule unterrichtet. Derzeit sind es erst 13 Schüler, da das Projekt noch im Aufbau ist. "In einigen Jahren sollen jeden Tag Realschüler an die Pestalozzischule kommen", sagt Direktorin Marietta Wischmeyer.
Skepsis gegenüber Unterricht an Regelschulen
Damit schwimmt die Pestalozzischule sozusagen gegen den Strom. Nach dem Willen der deutschen Politik soll es schließlich genau umgekehrt sein. In den kommenden Jahren sollen die sogenannten Förderschulen, in denen drei Viertel der behinderten Kinder in Deutschland untergebracht sind, weitgehend abgeschafft werden. Denn seit Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 unterschrieben hat, ist klar, dass das spezielle deutsche Förderschulsystem zugunsten der sogenannten Inklusion weitgehend aufgelöst wird. Die rund 500.000 behinderten Schüler kommen größtenteils auf reguläre Schulen und die Sonderschullehrer sollen ihnen dorthin folgen.
Die Pestalozzischule will bewusst den umgekehrten Weg einschlagen. "Viele unserer Kinder würden an einer Regelschule untergehen", befürchtet Marietta Wischmeyer. Ein Teil der Schüler der Pestalozzischule hat sowohl geistige als auch körperliche Behinderungen. Die großen Klassen an regulären Schulen, die Unruhe und das Tempo der anderen Kinder würden gerade mehrfach behinderte Kinder überfordern, glaubt Wischmeyer.
Enger Kontakt zu den Nachbarschulen
In der Pestalozzischule sind in keiner Klasse mehr als zwölf Schüler, die von zwei Pädagogen individuell betreut werden. Die Kinder erhalten an der Schule Krankengymnastik, sie haben ein Lehrschwimmbecken, und in der benachbarten Reitschule können sie Reittherapie bekommen. "Solche Fördermöglichkeiten kann eine Regelschule derzeit noch nicht bieten", betont die Direktorin.
Dennoch habe aber auch ihre Schule nach Wegen gesucht, ein gemeinsames Lernen Behinderter und Nicht-Behinderter zu ermöglichen, erklärt Wischmeyer. Schon seit vielen Jahren hat die Pestalozzischule engen Kontakt zu den Nachbarschulen. Dabei sei die Idee zum gemeinsamen Unterricht mit den Realschülern entstanden. Die haben auch einen eigenen Klassenraum an der Pestalozzischule, wo sie Theorie-Unterricht bekommen und zum Beispiel gemeinsame Projekte mit den behinderten Schülern vorbereiten. Außerdem hospitieren sie regelmäßig in den Klassen.
Realschüler als gern gesehene Gäste
Peggy, Lara, Leila und Milena machen an diesem Tag in der Mittelstufe 3 mit. Peggy und Lara spielen ein Würfel-Lernspiel mit der behinderten Marie. "Wo wohnst du?", lautet eine der Fragen, die Marie dabei beantworten muss. Für die Realschülerinnen sind auch schon mal etwas kniffligere Rechenaufgaben dabei. Melina löst unterdessen mit Mert Rechenaufgaben. Leila hilft Kristian, der am Computer eine Räuber-Geschichte schreiben möchte.
Die Realschüler kommen gern in die Pestalozzischule. "Hier wird viel mehr gelacht als bei uns", sagt Lara. Die 14-Jährige, die zum ersten Jahrgang gehört, der in der Pestalozzischule unterrichtet wird, war am Anfang unsicher, was sie erwarten würde. "Aber jetzt habe ich ein ganz anderes Bild von behinderten Menschen. Ich finde das jetzt ganz normal", sagt sie. Normal finden auch die Förderschüler, dass Kinder und Jugendliche aus anderen Schulen bei ihnen ein- und ausgehen. "Die sind alle ganz nett und ruhig", findet Kristian. Neben den Realschülern kommen auch regelmäßig Kinder aus der benachbarten Grundschule zu Besuch.
Förderschulen wollen umgekehrte Inklusion
Bislang ist die Pestalozzischule mit ihrer Idee von der "umgekehrten Inklusion" zwar noch eine Ausnahme, aber nicht ganz allein. So startet zum Beispiel der evangelische Träger Paulinenpflege im baden-württembergischen Winnenden im September ein berufliches Gymnasium für gehörlose und sprachbehinderte Jugendliche, das auch nicht-behinderte Schüler aufnimmt. Im hessischen Aulhausen können an einer katholischen Grundschule für behinderte Kinder seit dem vergangenen Jahr auch nicht-behinderte Kinder angemeldet werden.
Politisch seien diese Modelle derzeit eigentlich gar nicht vorgesehen, bedauert Schuldirektorin Marietta Wischmeyer. Sie hofft aber, dass mehr Schulen einen ähnlichen Weg gehen und Regelschüler an Förderschulen künftig genau so selbstverständlich werden wie behinderte Schüler an regulären Schulen. "Meine Vision ist, dass unsere Schüler ihre differenzierte Lernumgebung hier behalten, aber Regelschüler zu uns herein kommen."
Wie die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung am besten hergestellt werden kann, ist in Deutschland also durchaus umstritten. Ein Grund für die Diakonie, die Diskussion aufzugreifen und Inklusion zu ihrem Jahresschwerpunkt zu machen. Viele Landesverbände greifen das Thema in diesem Jahr auf und veranstalten dazu eine "Woche der Diakonie", so zum Beispiel vom 1. bis 8. September in Niedersachsen.