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Die Tücken der Inklusion

Sabine Damaschke25. März 2013

Gestresste Lehrer, frustrierte Schüler - der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung führt in Deutschland zu Problemen. Zwar wollen alle die Inklusion, fühlen sich aber damit überfordert.

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Ein mehrfach behinderter Junge (rechts) und ein nicht-behinderter Junge lernen gemeinsam in der Grundschule (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Während seine Klassenkameraden über den Schulhof rannten, stand der siebenjährige Marvin (Name geändert) alleine an der Wand. Am Unterricht konnte sich der blinde Junge kaum beteiligen. Dafür hätte er ganz andere Lernmaterialien und die permanente Hilfe der Lehrerin gebraucht. Also saß er meistens still zwischen seinen 29 Klassenkameraden. "Wir konnten Marvin nicht richtig fördern und in die Klasse integrieren", sagt Grundschulrektorin Beate Müller (Name geändert). "Dafür wäre eine ganz andere sonderpädagogische Unterstützung nötig gewesen."

Für drei Stunden in der Woche kam eine Sonderpädagogin an die Schule. Da sie eine längere Anfahrt hatte, blieb oft nur eine Stunde übrig, um mit der Lehrerin über Förderpläne zu sprechen, sie in spezielle Materialien für blinde Kinder einzuweisen oder über Probleme zu reden. "Hinzu kam, dass wir keine barrierefreie Schule sind und immer Angst haben mussten, dass Marvin sich verletzt", sagt Beate Müller. So kam es dann auch. Nach einem Unfall verließ das blinde Kind die Schule wieder und kam an eine Förderschule.

"Hoffnunglose Überforderung"

"Inklusion kann unter diesen Bedingungen nicht funktionieren", meint Beate Müller verärgert. Wie viele andere deutsche Lehrer fühlt sie sich von der Politik alleine gelassen. Seit Deutschland vor vier Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, gibt es für jedes behinderte Kind einen Rechtsanspruch auf Unterricht in einer Regelschule. Genau den haben die Eltern von Marvin geltend gemacht. "Wir haben Inklusion auf dem Rücken des Kindes ausprobiert und sind damit gescheitert", so die bittere Bilanz der Grundschulrektorin.

Eine Grundschülerin im Rollstuhl wird von einer Mitschülerin geschoben (Foto: dpa)
Mit Rollstuhl in der Regelschule - in Deutschland ist das bislang eher die AusnahmeBild: picture-alliance/dpa

Erfahrungen wie diese hört Bildungsexperte Heinz Klippert in der letzten Zeit häufiger. Der Erziehungswissenschaftler ist jedes Jahr an rund 100 deutschen Schulen unterwegs, um Lehrer fortzubilden. "Viele Pädagogen fühlen sich hoffnungslos überfordert", sagt er. Klippert erzählt von Lehrern, die plötzlich autistische Kinder in der Klasse sitzen haben, die schreien und unter den Tisch kriechen, von Pädagogen, die körperbehinderte Schüler während des Unterrichts zur Toilette begleiten müssen - und dafür ihre 30 anderen Schüler alleine lassen.

Inklusion: Noch lange nicht die Regel

"Wir brauchen in Deutschland dringend mehr Unterstützung für Lehrkräfte", fordert der Bildungsexperte. Es sei nicht damit getan, die speziellen Schulen für Kinder mit Behinderungen einfach aufzulösen und die Sonderpädagogen in sogenannten "Förderzentren" zusammenzufassen. Statt eine Klasse gemeinsam zu unterrichten, sind die Sonderpädagogen nun für eine bestimmte Stundenzahl in verschiedenen allgemeinen Schulen zu Gast und betreuen dort die behinderten Kinder - in der Regel für zwei bis drei Stunden pro Woche.

Ungefähr eine halbe Million Kinder und Jugendliche sind in Deutschland behindert. Bislang besuchen nur 25 Prozent von ihnen eine reguläre Schule. Die anderen gehen auf Sonder- oder Förderschulen. Rund zehn verschiedene Arten von Förderschulen gibt es in Deutschland - so viele wie nirgends sonst auf der Welt. Das will die Politik nun ändern und die Sonderpädagogen langfristig an Regel- statt Förderschulen einsetzen. Denn die haben sich nach Ansicht internationaler Bildungsexperten nicht bewährt: Immerhin verlassen rund 80 Prozent der Jugendlichen die Förderschulen ohne einen Abschluss.

Ein Mädchen mit Down-Syndrom sitzt in der Grundschule zusammen mit nichtbehinderten Schülern der 3. Klasse im gemeinsamen Unterricht und löst eine Matheaufgabe (Foto: dpa)
Behinderte Kinder haben besonderen FörderbedarfBild: picture-alliance/ZB

Plädoyer für eine "Strategie der kleinen Schritte"

Dass so manches behinderte Kinder in einer Regelschule mehr Lernanreize bekommt, steht auch für Klippert außer Frage. Er befürwortet die Inklusion, warnt aber vor einem "Hauruckverfahren". "Wir haben in Deutschland ein ganz anderes Schulsystem als andere Länder, in denen die Inklusion erfolgreich ist." So lernten Schüler in anderen Staaten bis zur zehnten Klasse gemeinsam, die Pädagogen seien mit individueller Förderung vertraut. In Deutschland dagegen gebe es das gegliederte Schulsystem.

"Viele Lehrer sind ja noch nicht mal darin geübt, Kinder mit ganz unterschiedlichen Leistungsniveaus gemeinsam zu unterrichten. Wie sollen sie da behinderten Schülern gerecht werden?", fragt der Bildungsexperte. Klippert plädiert daher für eine "Strategie der kleinen Schritte". Erst müsse es mehr verpflichtende Fortbildungen für Lehrer geben, dann die Integration von Kindern mit leichteren Handicaps wie Lernbehinderungen und Verhaltensauffälligkeiten, um dann schrittweise auch geistig- und körperbehinderte Schüler in die Regelschulen aufnehmen zu können.

Learning by doing

Erst die Lehrer fortbilden und dann die Inklusion einführen - davon hält der Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz nichts. "Wir lernen den Umgang mit behinderten Menschen nur dann, wenn wir auch mit ihnen umgehen", betont er. Die Inklusion gehe in Deutschland nicht zu schnell, sondern zu langsam voran. Viele Bundesländer befänden sich diesbezüglich noch im "Tiefschlaf". Rühmliche Ausnahmen seien Bremen und Schleswig-Holstein, wo mittlerweile über die Hälfte aller Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule besuchten.

Behinderte und nichtbehinderte Grundschüler helfen sich in einem Klassenzimmer gegenseitig bei Rechenaufgaben (Foto: dpa)
Gemeinsames Lernen will gelernt seinBild: picture-alliance/dpa

Doch auch dort fühlen sich viele Lehrer überfordert. "Wir brauchen dringend mehr Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen", sagt Astrid Henke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein. Die meisten Schulen hätten am liebsten eine Doppelbesetzung von Lehrerkräften und Sonderpädagogen in den Klassen - so wie sie in vielen skandinavischen Ländern, aber auch in Australien üblich sei. Doch daran ist im hoch verschuldeten Schleswig-Holstein nicht zu denken. Statt dessen will die Landesregierung über 3000 Lehrerstellen streichen.

Demografischen Wandel als Chance nutzen

Das Argument: Die Schülerzahlen werden in den nächsten Jahren stark zurückgehen, also braucht man auch weniger Lehrer. "Hier wird die Chance vertan, den demografischen Wandel für die dringend notwendige Reform unseres Schulsystems und die Inklusion zu nutzen", kritisiert die Sonderschullehrerin. Kleinere Klassen, die Doppelbesetzung mit Lehrern und Sonderpädagogen, mehr Fortbildungen, barrierefreie Schulen - all das scheint in weite Ferne zu rücken.

Zurück bleiben gestresste Lehrer, die sich alleine gelassen fühlen - und persönliche Konsequenzen ziehen: "In Schleswig-Holstein arbeiten immer mehr Lehrerinnen und Lehrer als Teilzeitkräfte", beobachtet Astrid Henke. "Sie fühlen sich durch die Anforderungen der Inklusion so stark belastet, dass sie ihre Arbeit reduzieren, um nicht krank zu werden."