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Zauberwort Inklusion

9. Dezember 2009

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist geltendes Recht in Deutschland. Sie verpflichtet dazu, behinderte Menschen nicht zu benachteiligen. Ein hehres Ziel, das nur langfristig erreicht werden kann.

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Zwei gehbehinderte Schüler in Rollstühlen werden von ihrem Lehrer an behindertengerechten Schreibtischen unterrichtet (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Ausgrenzung erleben die meisten Behinderten bereits in der Schule, denn nur die wenigsten lernen auf so genannten Regelschulen. Von einem umfassenden Recht auf Bildung ist man in Deutschland also noch weit entfernt. Das wollen die Betroffenen mit Hilfe der UN-Konvention nun Schritt für Schritt ändern. Noch ist Deutschland aus Sicht Sigrid Arnades vom Deutschen Behindertenrat ein Entwicklungsland, jedenfalls wenn es um Bildung geht.

In anderen Ländern sieht es besser aus

Während in Ländern wie Schweden, Italien, Portugal und Spanien mindestens 80 Prozent der Behinderten in so genannte Regelschulen gingen, seien es hierzulande nur 15 Prozent, beklagt die in Berlin lebende Journalistin. Und auch diese 15 Prozent seien ihrer Ansicht nach oftmals noch geschönt. Wenn es eine Klasse mit behinderten Kindern gebe, die in demselben Gebäude unterrichtet würden, wie die Kinder der Regelschule, dann werde das schon als integriert bezeichnet. "Das ist es natürlich überhaupt nicht, wenn sich die Kinder höchstens mal in der Pause sehen", empört sich Arnade.

Um die Situation behinderter Menschen schon in der Schule spürbar zu verbessern, müssten sie von Anfang an gemeinsam unterrichtet werden, fordert die auf einen Rollstuhl angewiesene Frau. Sigrid Arnade.

Bildungspolitische Revolution

In der ersten Klasse der Waldhofschule im brandenburgischen Templin lernen Wanda und der behinderte Steve gemeinsam das ABC (Foto: DPA vom 14.01.2004). Zum Beginn des Schuljahres wurde die bisherige Förderschule für geistig Behinderte zu einer integrativen Grundschule umgestaltet, in der alle Kinder bis zum Abschluss der 6. Klasse gemeinsam lernen. Aus der Einrichtung wird jetzt eine Ganztagsschule, in der einmal alle Schüler bis zum Abschluss der 10. Klasse unterrichtet werden.
Gemeinsames Lernen in einer integrativen Grundschule im brandenburgischen TemplinBild: picture-alliance/ ZB

Was für viele Behinderte lange ein Traum war, hat Dank der UN-Behindertenrechtskonvention jetzt eine realistische und vor allem einklagbare Perspektive. Denn nun muss Deutschland die Voraussetzungen für gemeinsames Lernen schaffen. Das kommt einer bildungspolitischen Revolution gleich, bedeutet es doch die - wenn auch nur langfristig zu verwirklichende - Abkehr von so genannten Förderschulen für Behinderte, die früher als Sonderschulen bezeichnet wurden.

Das Zauberwort, das in diesem Zusammenhang immer wieder fällt, heißt Inklusion. Damit ist Bildung gemeint, die niemanden ausschließt - ein zentraler Begriff auch in der UN-Konvention, die für den blinden Tomas Todorovic insofern zu spät kommt, als er seine Ausbildung schon hinter sich hat. "Ich habe das ganze Sonderschul-Programm durchlaufen: Grundschule, Hauptschule, Gymnasium, Abitur."

Obwohl ihm der Zugang zu einer Regelschule verwehrt blieb, ist Tomas Todorovic mit seiner Ausbildung insgesamt zufrieden. Er habe sein Ziel, ganz normal Politik zu studieren, aber nur erreicht, weil er eine Kämpfer-Natur sei, ergänzt er. Dem Studium folgte dann noch eine journalistische Ausbildung.

Bundesregierung unter Beobachtung

Dass und wie Deutschland die Rechte Behinderter umsetzt, darauf achtet seit diesem Jahr die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Leiter dieses Gremiums ist der Jurist Valentin Aichele, der das Inklusionsgebot - also das alle einschließende Lernen - für das zentrale Element der UN-Konvention hält. Er vergleicht sie bildlich mit einem warmen Raum, in den jeder, der hineinkommt, willkommen ist.

Es ist das Bild von einem Idealzustand, bei dem Behinderung nicht für Aufsehen oder Irritationen sorgt, sondern als normal empfunden wird. Das sei eine große Herausforderung für die Bildungspolitik, sagt Aichele, "ein System aufzubauen, wo jeder selbstverständlich mit offenen Armen begrüßt wird".

Im Koalitionsvertrag steht wenig

Ein Rollstuhlfahrer verlässt mit Hilfe eines Hubliftes einen Zug am Bahnhof in Idstein bei Wiesbaden (Foto: AP)
Barrierefreies Bauen ist auch eine Herausforderung für den NahverkehrBild: AP

Im Koalitionsvertrag der seit Ende Oktober 2009 regierenden Konservativen (CDU/CSU) und Freidemokraten (FDP) stehen zum Thema Behinderung ganze 14 Zeilen. Zu wenig, meint Sigrid Arnade vom Deutschen Behindertenrat. Die Bundesregierung müsse sich nun beweisen, beispielsweise wenn es um Baumaßnahmen gehe. Die müssten grundsätzlich barrierefrei sein. Das wäre zum Beispiel ein Punkt, wo die Koalition zeigen könne, "dass sie das Thema ernst nimmt". Damit würde sie auch an die Zukunft denken - an den demografischen Wandel mit immer mehr älteren und gebrechlichen Menschen.

Der blinde Politologe und Journalist Tomas Todorovic macht sich keine Illusionen. Es werde mindestens zehn Jahre dauern, bis ein Großteil der nötigen Maßnahmen umgesetzt und behinderte Menschen als in jeder Hinsicht normal angesehen würden. Um seine Situation und die anderer behinderter Menschen spürbar zu verbessern und die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen, sei aber auch eine bessere Öffentlichkeitsarbeit nötig.

Was ein Blinder in der U-Bahn erlebt

Tomas Todorovic wird sich auch künftig nicht darüber wundern, wenn ihm seine Mitmenschen ahnungslos und unsicher gegenübertreten. Er spricht von "Alltagsklassikern", die er zum Beispiel in der U-Bahn erlebe. Die Leute glaubten, weil er blind sei, könne er nicht stehen und müsse immer sitzen. "Und weil sie davon ausgehen, dass ich angeblich nicht stehen kann, kann ich natürlich auch keine Treppen laufen."

Autor: Marcel Fürstenau

Redaktion: Kay-Alexander Scholz