Holocaust-Überlebende Zilli Schmidt ist tot
21. Oktober 2022"Ich war in drei Lagern. Eins davon war Auschwitz-Birkenau. Das Lager, das eigentlich nur zum Töten da war." Zilli Schmidt war schon über 90 Jahre alt, bevor sie begann, öffentlich über ihr Leben und ihre Verfolgungsgeschichte zu sprechen. Sie gab Interviews für ein Buch: "Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza". Sie versprach ihren Lesern und Leserinnen: "Solange ich noch hier bin, erzähle ich meine Geschichte, bis ich meine Augen zu mache und bin bei meinem Herrn."
Dieses Versprechen hat die Überlebende des Holocaust gehalten. 2021 wurde ihr als "unerschütterliche Kämpferin gegen Hass, Ausgrenzung und Rechtsextremismus" vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Der Oberbürgermeister von Mannheim steckte es ihr stellvertretend im Januar 2022 an. "Zilli gibt nicht auf", kommentierte sie freundlich, als er länger dafür brauchte. Dann wandte sie sich ans Publikum: "Also ihr Hübschen alle, ich danke Euch dafür, dass ihr mir die große Ehre gegeben habt."
Sie hat nie aufgegeben in ihrem Leben. Die kleine, zierliche Frau hatte einen starken Glauben und war überzeugt davon, dass sie so oft ganz knapp den Nazi-Terror überlebt hatte, um über den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma zu berichten. Und sie berichtete: von den glücklichen Kindertagen nach ihrer Geburt 1924 als Cäcilie Reichmann in Thüringen, von den Reisen mit ihrer Familie, von Beschimpfungen in der Schule.
Im Krieg diente ihr Bruder in der Wehrmacht. Doch das schützte die Familie nicht vor der nationalsozialistischen Verfolgung. In Straßburg wurde Zilli Reichmann zusammen mit ihren Cousinen festgenommen. "Straftat: Zigeunerin", notierte die Polizei. Aus dem ersten Konzentrationslager Lety in Böhmen konnte sie noch fliehen.
Sie riskierte ihr Leben
Doch im März 1943 kam die junge Zilli als erste der Reichmanns ins sogenannte "Zigeunerfamilienlager" in Auschwitz-Birkenau. Um den Kindern und anderen zu helfen, habe sie "geklaut wie ein Rabe", Kartoffeln in der Küche, Stiefel im Magazin, sie riskierte ihr Leben. Auch ihre Familie landete in Auschwitz, darunter ihre kleine Tochter Gretel. Sie erlebten Hunger und unvorstellbare Gewalt, Schüsse auf kleine Kinder, Massenmord.
Sie selbst wurde als einzige ihrer Familie am 2. August 1944 aus Auschwitz zwangsweise ins KZ Ravensbrück deportiert. Dort erfuhr sie, dass man alle Verbliebenen im sogenannten "Zigeunerlager" in den Gaskammern ermordet hatte: ihre Eltern, ihre Schwester Guki mit sechs Kindern, ihre eigene vierjährige Tochter Gretel. Allein in dieser Nacht ermordete die SS etwa 4300 schreiende und weinende Menschen - ein Schreckenstag des Völkermords an den Sinti und Roma in Europa, dem Porajmos.
"Die Jugend ist nicht aufgeklärt worden"
Am 2. August 2018, genau 74 Jahre später, sprach sie zum ersten Mal öffentlich über ihr Leben - bei der Gedenkfeier für die ermordeten Sinti und Roma Europas am Mahnmal in Berlin. Viele junge Menschen waren da, das freute sie besonders: "Die Jugend ist ja nicht aufgeklärt worden, die haben das in den Schulen nicht gebracht."
Zwei Jahre später, als es hieß, das Mahnmal solle vorübergehend für den S-Bahn-Bau weichen, sagte sie: "Unser Denkmal darf nicht angefasst werden. Wer das tut, der tötet unsere Menschen ein zweites Mal."
Am 10. Jahrestag der Eröffnung des Denkmals am 24. Oktober eröffnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dort eine Freiluftausstellung, in der die Geschichte Zilli Schmidts nachzulesen ist. Er wiederholte seine Bitte um Vergebung "für das unermessliche Unrecht, das den Roma Europas in der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschen angetan wurde, und für die Missachtung, die deutsche Sinti und Roma nach Kriegsende auch in der Bundesrepublik erfuhren".
Viele Jahre Papierkrieg gegen deutsche Behörden
Es war nicht leicht für die Überlebende, ihre Geschichte zu erzählen, sie quälten Depressionen und Alpträume. Im Gespräch mit der Deutschen Welle erklärte sie 2020 mit fester Stimme "meine Aufgabe": Sagen, was die Nazis mit den Sinti gemacht haben. "Die sind alle vergast worden, meine ganze Familie, meine ganzen Menschen." Nach dem Krieg habe das kaum jemand gewusst.Zilli Schmidt hatte ein hartes Leben nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945. Sie kämpfte viele Jahre gegen die deutschen Behörden für eine "Entschädigung", einen finanziellen Ausgleich für das erlittene Unrecht und Leid.
Nach vielen Jahren Papierkrieg erhielt sie wenig Geld. Sie sagte in Gerichtsverfahren gegen die Täter aus. Erst 1982 erkannte die Bundesrepublik Deutschland die rassistische Verfolgung der größten europäischen Minderheit an.
Romeo Franz nahm sie ein Versprechen ab
Zilli Schmidt hat fast ein Jahrhundert Erfahrungen gemacht mit Ausgrenzung und Verfolgung als deutsche Sinteza. "Liebe Kinder, Ihr müsst sehr stark sein", sagte sie 2020 beschwörend: "Wir leben in einer schlechten Zeit. Die Hitlers sind am Werk, die sind nicht totzukriegen". Sie warnte vor neuen Nazis.
Romeo Franz, erster deutscher Sinto im Europaparlament, ist ein guter Freund Zilli Schmidts gewesen. Auch in seiner Familie gibt es Auschwitz-Opfer, auch er wurde auf dem Schulweg als "dreckiger Zigeuner" beschimpft und geschlagen. Romeo Franz kannte die Ängste Zilli Schmidts vor Antiziganismus und Rechtsnationalismus: "Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich mich dagegen einsetze."
Nicht vergessen, was mit den Sinti passiert ist
Zilli Schmidt ist trotz ihrer Verfolgungsgeschichte nicht verbittert gewesen, sie hat das Leben mit viel Humor gemeistert, konnte laut und ansteckend lachen. Wie hat sie es geschafft, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft weiterzuleben und offen auf andere zuzugehen? Ihre Antwort: "Es sind nicht alle Nazis, sind viele gute Menschen." Denen wird diese besondere Jahrhundertzeugin fehlen.
Zilli Schmidt starb mit 98 Jahren nach einem Krankenhausaufenthalt zuhause in Mannheim. Ihr Glaube trug sie auch in diesen Tagen. Sie habe sich darauf gefreut, ihre Liebsten wiederzusehen, sagte eine Freundin der DW. Ihr Buch hatte Zilli Schmidt mit diesen Worten beendet:
"Ich will, dass die Welt erfährt, was mit den Sinti passiert ist. Ich will, dass sie wissen, was da war in den Lagern, was sie mit den armen Kindern gemacht haben. Ich will, dass sie wissen, wie das ist, weiterzumachen, wenn man alles verloren hat, was einem lieb war. Das will ich ihnen sagen, solange ich es kann, und ich will, dass es auch später die Menschen nachlesen können und nicht vergessen. Aber jetzt, jetzt macht die Zilli Schluss."
Dieser Artikel erschien erstmals am 21.10.2022 und wurde am 24.10.2022 aktualisiert.