Historische Rede unter der Reichstagskuppel
3. Juli 2014Es herrschte eine feierliche und getragene Stimmung unter der Reichstagskuppel, als die Abgeordneten in Anwesenheit von Bundespräsident Joachim Gauck und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, zu der kurzen Gedenkstunde zusammenkamen. Auf den Tribünen hatten zahlreiche geladene Gäste Platz genommen, darunter der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d'Éstaing, sowie rund 100 ausländische Botschafter und Gesandte.
"Wir sind die Enkel und Urenkel derjenigen, die vor 100 Jahren in diesen Krieg zogen, die in diesem Krieg für Kaiser und Vaterland fielen, die verwundet und verstümmelt zurückkehrten", sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Auftakt der Gedenkstunde. Der Erste Weltkrieg sei eine "Büchse der Pandora" für das gewalttätige 20. Jahrhundert gewesen, der letzte konventionelle und gleichzeitig der erste moderne Krieg, "von der Pickelhaube über Maschinengewehre bis zum Giftgas". Der Krieg von 1914-1918 habe Millionen Opfer gekostet. Er habe eine Zeitenwende eingeläutet und der Dominanz der europäischen Staaten in der Weltpolitik ein Ende gesetzt.
Unterschiedliche Erinnerungen
Für die Deutschen werde die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, von Franzosen und Briten "der große Krieg" genannt, überlagert von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Aus beiden habe die Bundesrepublik sehr viel später gelernt, dass "militärische Maßnahmen grundsätzlich kein geeignetes Mittel politisch gewollter Veränderungen sind und wenn überhaupt nur das letzte Mittel der Konfliktbeilegung sein dürfen." Diese Lehre werde deutlich durch die Verankerung der Bundeswehr im demokratischen Staat. Als erstes Land der Welt habe die Bundesrepublik das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in das Grundgesetz aufgenommen und anders als in den meisten Ländern der Welt habe das Parlament das letzte Wort über Militäreinsätze.
Auch Alfred Grosser wies auf die Unterschiede zwischen den beiden Weltkriegen für das deutsche Selbstverständnis hin. Der Krieg von 1914-1918 sei in eine fragile Demokratie gemündet, die durch den Versailler Vertrag aber so geschwächt worden sei, dass sie dem Ansturm des Nationalsozialismus nicht standgehalten habe. Der Zweite Weltkrieg dagegen sei mit der totalen Niederlage Deutschlands beendet worden und habe ein vollkommen anderes Deutschland hervorgebracht.
Deutschland als Auslöser des Krieges
Der französische Politologe unterstrich in seiner Rede auch, dass Deutschland sich lange Zeit einer Art Masochismus hingegeben und die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg auf sich genommen habe. Diese Sicht der Geschehnisse sei durch neuere Forschungen jedoch so nicht mehr haltbar. Auch in Frankreich sehe man in Deutschland nicht mehr den alleinigen Verursacher dieses Krieges, der sich im Nachbarland Deutschlands bis heute tief in die Erinnerung eingegraben habe. Heute sähen 82 Prozent der Franzosen in Deutschland den verlässlichsten Partner.
Grosser, der 1925 in Frankfurt am Main geboren wurde, erinnerte in seiner Rede auch an seinen Vater, der als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und wegen seiner Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden war. Im Jahr 1933 habe er sich entschlossen, sein Heimatland zu verlassen, nachdem er und die anderen jüdischen Veteranen aus dem Verband der Träger des Eisernen Kreuzes ausgeschlossen worden war. Die Familie wurde ausgerechnet in Frankreich aufgenommen, wo Grossers Vater als Veteran des Ersten Weltkriegs gewürdigt wurde, obwohl er im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft hatte.
Alfred Grossers Rede wurde von den Abgeordneten mit herzlichem Beifall bedacht. Der 89-Jährige wird in Deutschland als unermüdlicher Mittler und Versöhner zwischen Deutschland und Frankreich hoch geschätzt. Schon zwei Mal zuvor durfte er als Ehrengast vor dem Bundestag sprechen, beide Reden hatte er noch in Bonn gehalten.
Am 9. November sprach er in der Frankfurter Paulskirche bei der Gedenkfeier zum Jahrestag der Reichpogromnacht von 1938. Wegen dieses Auftritts hatte es zuvor heftige Auseinandersetzungen gegeben. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte Grosser wegen seines Engagement für die Palästinenser anti-israelische Stimmungsmache vorgeworfen.