Eine Katastrophe, die Europa eint
27. Juni 2014Vor hundert Jahren fielen die tödlichen Schüsse auf den habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand, die Europa dem Gräuel des Ersten Weltkriegs einen entscheidenden Schritt näher brachten. Bundespräsident Joachim Gauck steht an diesem Tag im großen Saal seines Amtssitzes Schloss Bellevue vor einer Gruppe renommierter Historiker und versucht Auskunft zu geben, welche Lehren aus dem Krieg von 1914 bis 1918 gezogen werden müssen.
Im Mittelpunkt stehen für Gauck dabei das Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung und der Zusammenhalt der westlichen Demokratien. Es gelte, "diese Errungenschaften gegen die Herausforderer im Äußeren zu verteidigen und um die Zweifler im Inneren zu werben". Den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland nennt Gauck in diesem Zusammenhang "eine große, unerwartete Herausforderung". Man wolle nicht zurück zu einer Politik der Herausforderung, "aber ebenso wenig können wir eine Verletzung des Rechts und eine Infragestellung unserer gemeinsamen europäischen Basis einfach so hinnehmen".
Gauck sieht im Europa nach der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" zwei widersprüchliche geistige Strömungen, die noch heute fortwirken. Der Bundespräsident begrüßt dabei Bewegungen hin zu mehr Gemeinsamkeit: "Lassen sie uns dieses Europa auch in Zukunft als unser gemeinsames Haus annehmen", appelliert er beherzt an seine Zuhörer. Nationalistischen Tendenzen erteilt er ebenso entschieden eine Absage: "Der Rückzugsraum Nationalstaat, von dem manche träumen - er existiert so gar nicht mehr."
Spuren in der Gegenwart
Der Bundespräsident erinnert auch an die globale Dimension des Krieges von 1914 bis 1918, indem er auf ein Exponat der aktuellen Weltkriegsausstellung im Deutschen Historischen Museum verweist: eine auf Arabisch verfasste Lagerzeitung, mit der muslimische Kriegsgefangene im Deutschen Reich ermuntert worden seien, sich zum Dschihad gegen die Briten in der Türkei zu beteiligen. Der Krieg habe überall seine Spuren hinterlassen: "An vielen Orten der Welt sind noch immer Probleme ungelöst, die durch diesen Krieg und seine Nachgeschichte aufgeworfen wurden." Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, oder aber auch die Konflikte auf dem Balkan der jüngeren Vergangenheit sowie in der Ukraine passen in dieses Bild.
Bei seiner Rede bewegt sich Gauck schnell weg vom eigentlichen Weltkrieg und eilt durch die Jahre bis zu den Herausforderungen der Gegenwart. Denn eigentlich ist der Weltkrieg zwar ein blutiger Auftakt für eine von extremen Entwicklungen geprägte Zeit, aber klare Schlüsse lassen sich aus den Geschehnissen vor, während und in den Jahren nach dem blutigen Konflikt schwer ziehen. "Unsere Zeit erinnert mehr an damals, als an die Welt vor 20 oder 30 Jahren", beschreibt der australische Weltkriegs-Experte Christopher Clark. Es ist wiederum eine multipolare Welt - eine, die wieder "viel gefährlicher" geworden sei.
Wahrnehmungen des Krieges
In diesen Tagen gibt es in ganz Europa viele Gedenkfeiern. Doch die Perspektive auf das historische Ereignis ist dabei sehr unterschiedlich. Für Polen, so stellte der Warschauer Geschichtsforscher Maciej Górny klar, spiele der Krieg, vor allem an der Westfront, kaum eine Rolle. Die Deutschen befassten sich besonders intensiv mit der Kriegsschuldfrage und hätten generell durch den für sie viel wichtigeren Zweiten Weltkrieg eine verstellte Sicht: Sie würden den Ersten Weltkrieg eher als ein Vorspiel zu allem sehen, was folgte, meint der Freiburger Historiker Jörn Leonhard. Belgier würden des Krieges aus einer Opferperspektive gedenken, Briten sähen ihn als einen Konflikt, in dem sie für ihr Wertesystem kämpften, so der Experte. Viele beteiligte Länder erfuhren die Gewalt nicht auf eigenem Boden - das gilt größtenteils auch für das Deutsche Reich.
Die Erinnerungskulturen, die aus diesen Unterschieden gewachsen sind, divergieren erheblich. Aber: "Eine gemeinsame Zukunft erfordert einen Konsens über das Geschehene", betont der griechische Soziologe Michael Kelpanides. Aber auch hier könnte die Abwendung vom Nationalen, wie sie Gauck fordert, eine Lösung sein. Die Geschichtsprofessorin Laurence Van Ypersele aus dem belgischen Louvain (Löwen) schlägt in diesem Sinne vor: "Wir brauchen eine übergreifende Perspektive darauf, was Kriegsgefangenschaft, was Kampf oder Besetzung bedeutet".