Griechenland-Türkei: Kriegsrhetorik, aber kein Krieg
5. Oktober 2022"Wird Erdogan Krieg gegen uns führen?" Mit dieser Frage halten griechische Medien derzeit die Öffentlichkeit ihres Landes in Atem. Sie wird täglich in nahezu jeder Nachrichtensendung gestellt, im Hintergrund läuft dazu Thriller-Musik. Es ist nicht nur ein Thema, das sich aus Sicht der Medien gut verkauft. Die dramatische Angstmache hilft der griechischen Regierung auch, vor einer "nationalen Gefahr" zu warnen, statt sich mit unangenehmen innenpolitischen Themen zu befassen, wie dem nicht endenden Abhörskandal oder der hohen Inflation.
Jenseits medialer Übertreibungen und der politischen Instrumentalisierung des Themas besteht jedoch kein Zweifel daran, dass sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan derzeit zunehmend drohend äußert: "He, Grieche! Schau dir mal die Geschichte an. Wenn du so weiter machst, wird der Preis für dich sehr hoch sein", wiederholte er in den vergangenen Wochen auf mehreren Veranstaltungen.
Damit will Erdogan an das Jahr 1922 erinnern, als der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die griechische Armee besiegte und die griechische Bevölkerung Kleinasiens vertreiben ließ. Hundert Jahre nach der "kleinasiatischen Katastrophe", wie die Griechen dieses folgenreiche Ereignis nennen, droht Erdogan mit einer Wiederholung: "Wir können eines Nachts plötzlich kommen", verkündet er.
Kann Erdogan sich diesen Krieg leisten?
Ist das ernst gemeint? Will der türkische Präsident tatsächlich seine Kampfflugzeuge schicken und griechische Inseln in der östlichen Ägäis attackieren, wie er immer wieder durchblicken lässt? Diese Fragen werden auch beim kommenden Gründungsgipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag am Donnerstag und Freitag (6./7.10.2022) im Raum stehen. Das Treffen ist ein neues Format der EU, zu dem unter anderem auch die Westbalkan-Staaten und die Türkei eingeladen sind. Es geht dabei auch darum, ob und wie die EU und die Türkei sich im Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine wieder annähern und besser kooperieren können. Die Entschärfung der zunehmenden griechisch-türkischen Spannungen wird dafür von entscheidender Bedeutung sein.
Eines steht nach Ansicht der meisten Experten und Beobachter allerdings schon fest: Erdogans Rhetorik mag sich martialisch anhören - ernst gemeint ist sie höchstwahrscheinlich nicht. Denn der türkische Staatschef kann sich einen Krieg gegen das EU- und NATO-Mitglied Griechenland schlicht nicht leisten.
NATO und USA werden keinen Krieg erlauben
Die Gründe sind vielfältig: Zum einen sind die Chancen für Erdogan, einen solchen Krieg zu gewinnen, mehr als unsicher. Zum anderen dürfte er sich im Klaren darüber sein, dass die NATO ihrem Mitgliedsland Türkei einen kriegerischen Akt gegenüber Griechenland niemals erlauben würden, besonders die USA nicht.
Schon in der Imia-Krise von 1996, als es im Streit um zwei unbewohnte Inseln zu kleineren militärischen Auseinandersetzungen zwischen Griechenland und der Türkei gekommen war, hatten NATO und USA eine weitere Eskalation verhindert. Bei einer weiteren Zuspitzung der Lage würden sie noch entschiedener auftreten. Denn wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine kann sich die NATO keine Schwäche leisten, indem sie einen militärischen Konflikt zwischen zwei Mitgliedsländern zulässt. Konkret sind auch die amerikanischen Militärbasen auf Kreta und in Alexandroupolis im Osten Griechenlands äußerst wichtig für die militärische Versorgung der NATO-Truppen in Osteuropa und für die Militärhilfe für die Ukraine.
Politik der "kontrollierten Spannung"
Dennoch ist eine sogenannte "heiße Episode" in der Ägäis nicht vollkommen ausgeschlossen - ausgelöst beispielsweise durch eine türkische Invasion auf einer unbewohnten kleinen griechischen Insel, von denen es in der Ost-Ägäis viele gibt. Das wäre allerdings das schlimmste Szenario.
Fest steht, dass Erdogan seit dem gescheiterten türkischen Militärputsch von 2016 gegenüber Athen eine Politik der "kontrollierten Spannung" verfolgt, mal mit mehr, mal mit weniger scharfer Rhetorik. Mitte kommenden Jahres stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an, daher klingt Erdogans Sprache zurzeit sehr martialisch. Es scheint, dass er auf diese Weise sein nationalistisches Wählerspektrum zufriedenstellen will.
Auch ein möglicher Flugzeugunfall könnte die explosive Lage eskalieren lassen. Zurzeit dringen türkische Kampfjets fast täglich in den griechischen Luftraum ein und müssen von griechischen Militärflugzeugen immer wieder zur Umkehr gezwungen werden. Bis jetzt hat noch kein Pilot, weder ein türkischer noch ein griechischer, die Nerven verloren. Ein tödlicher Fehler ist jedoch nicht auszuschließen.
"Gefährliche Spiele"
Es ist seit vielen Jahren die Türkei, die Griechenland mit Krieg droht, falls Athen seine Hoheitsgewässer um seine Inseln auf zwölf Meilen festlegt, was internationalem Recht entspricht. Trotzdem dreht der türkische Präsident den Spieß inzwischen um und stellt es so dar, als ob Griechenland der Türkei mit Krieg drohe. Er beklagt, Griechenland spiele in der Region wegen der militärischen Aufrüstung auf einigen griechischen Inseln "gefährliche Spiele" und verspricht, er werde "wenn nötig, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel" einsetzen, um "die Rechte des türkischen Volkes zu verteidigen".
Die Antwort der griechischen Diplomatie lautet standardmäßig: "Wir bedrohen die Türkei nicht. Wir erwarten, dass Ankara den Casus Belli aufgibt, und wir sind jeder Zeit bereit zu einem Dialog auf der Basis des internationalen Rechts und des internationalen Seerechts." - so etwa die Stellungnahmen des griechischen Außenministeriums. Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis versucht, demonstrativ gelassen zu bleiben. In seiner Rede auf der UN-Generalversammlung sagte er beispielsweise an die Adresse der Türkei: "Ihnen möchte ich sagen, dass Griechenland keine Bedrohung für Ihr Land darstellt. Wir sind keine Feinde. Wir sind Nachbarn."
Rendezvous in Prag?
Zwar zeigt Erdogan bisher keine Bereitschaft, einen Dialog mit Mitsotakis zu führen, doch immerhin hat Ibrahim Kalin, der wichtigste Berater des türkischen Präsidenten, ein Treffen zwischen Erdogan und Mitsotakis am Rande des EU-Gipfels in Prag nicht ausgeschlossen.
Allerding hat Mitsotakis seinerseits ebenfalls kein großes Interesse an einem substantiellen Dialog mit Erdogan. Ihm ist zwar wichtig, international als guter und verlässlicher Partner zu erscheinen, zugleich weiß er, dass seine konservative Partei Nea Dimokratia und die meisten ihrer Wähler eher gegen Verhandlungen zur Lösung des griechisch-türkischen Streits sind. Nationalismus ist nicht nur in der Türkei vorhanden sondern auch in Griechenland, wo im kommenden Jahr ebenfalls eine Parlamentswahl ansteht.
Falls also der internationale Druck Wirkung zeigt und in Prag ein Treffen zwischen Erdogan und Mitsotakis zustande kommt, dann werden beide wohl mit der gleichen Grundstimmung am Verhandlungstisch Platz nehmen: Vermutlich wird keiner von ihnen auf einen konstruktiven Dialog drängen, um den Streit ein für allemal zu begraben.