Ägäis-Konflikt: "Die Türkei schafft Fakten"
24. August 2022Deutsche Welle: Herr Seufert, im Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei gibt es keine Deeskalation. Wie ernst sollte man die Infragestellung der griechischen territorialen Souveränität in der Ägäis durch Mitglieder der türkischen Regierung nehmen?
Günther Seufert: Mittelfristig sollte man die Infragestellung der Souveränität großer griechischer Ägäis-Inseln ernst nehmen, weil wir hier eine Position haben, die sowohl von der türkischen Regierung als auch von der Opposition geteilt wird. Kurzfristig sehe ich im Augenblick aber keine große Eskalationsgefahr. Die Türkei versucht zur Zeit, mit den anderen Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers die Wogen zu glätten, und da wäre eine Eskalation auf den Inseln kontraproduktiv.
Die Türkei hat erneut mit Rohstoff-Erkundungsbohrungen im südöstlichen Mittelmeer begonnen. Obwohl sich das Schiff Abdülhamid Han zur Zeit in türkischen Hoheitsgewässern bewegt, gibt es Besorgnis. Ist das eine Kriegsdrohung?
Bohrungen in den exklusiven Wirtschaftszonen Griechenlands wären zweifellos eine Provokation, auch wenn sie die Souveränität Griechenlands nicht direkt bedrohen. 2020 hat die Türkei in den exklusiven Wirtschaftszonen der Republik Zypern gebohrt und die exklusive Wirtschaftszone Griechenlands bei Kreta in Frage stellt. Die Republik Zypern, Griechenland und auch die Anrainerstaaten in der EU haben sich mittlerweile mehr und mehr daran gewöhnt, dass die Türkei hier Fakten schafft. Das ist mittel- und langfristig sehr bedenklich. Dass daraus im Augenblick ein Krieg entstehen könnte, glaube ich jedoch nicht.
Glauben Sie, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirklich eine Eskalation mit Griechenland oder Zypern anstrebt? Oder ist das nur eine innenpolitische Show?
Es hat auf jeden Fall große Bedeutung für die Innenpolitik. Je entschlossener die Regierung da auftritt, desto größeren öffentlichen Beifall findet sie in der Türkei, und die Opposition hat eigentlich in dieser Frage keine abweichende Meinung. Es ist interessant, dass die Türkei die Militarisierung der Ägäis-Inseln durch Griechenland über Jahrzehnte hingenommen hat und nun sehr plötzlich daraus ein Streitpunkt macht. Noch 2020 war davon nicht groß die Rede, sondern es drehte sich alles um Zypern und um die exklusiven Wirtschaftszonen. Ich glaube deshalb nicht, dass die Türkei hier tatsächlich eskalieren wird.
Anders steht es im Fall Zyperns. Dort sehen wir, dass seit der Wahl von Ersin Tatar als "Präsident" im Norden Zyperns eine längerfristige Strategie Schritt für Schritt umgesetzt wird. Wenn Erdogan an der Macht bleibt, sich die Beziehungen zu Europa nicht verbessern und der wirtschaftliche Druck auf die Türkei nachlässt, rechne ich damit, dass die türkische Regierung den einen oder anderen Staat dazu bewegen wird, die Türkische Republik Nordzypern anzuerkennen, um so die endgültige Teilung Zyperns zu erreichen.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nahm bei ihrem Besuch in Athen vor einigen Wochen eine klare Position zugunsten Griechenlands ein und sagte, dass die griechische Souveränität in der Ägäis unbestreitbar sei. Wie beurteilen Sie das?
Hier sind zwei Entwicklungen zusammengekommen: eine grüne Außenministerin und die Eskalationspolitik der Türkei im Hinblick auf die griechischen Ägäis-Inseln. Die Grünen hatten in ihrem Wahlprogramm angekündigt, dass sie gegenüber der Türkei eine prinzipienfestere Politik verfolgen und stärker auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit achten wollen. 2020 war es im Streit zwischen Griechenland, der Republik Zypern und der Türkei um exklusive Wirtschaftszonen gegangen. Da in dieser Frage alle Parteien maximalistische Positionen vertreten, war es für Deutschland nicht schwer, eine balancierte Politik zu betreiben. Beim Status der griechischen Inseln gibt es jedoch wenig zu diskutieren. In dieser Frage können Außenminister europäischer Länder nur darauf hinweisen, dass die Zugehörigkeit der Inseln zu Griechenland natürlich nicht in Frage gestellt werden darf.
Hat sich die deutsche Politik gegenüber der Türkei allgemein geändert?
Die Interessenlagen haben sich nicht wesentlich geändert. Die Bundesregierung hat nach wie vor ein großes Interesse an gute Beziehungen zur Türkei. Die beiden Länder sind wirtschaftlich, sozial und politisch sehr eng verflochten. Wahrscheinlich haben weder Deutschland noch die Türkei mit irgendeinem anderen Land so vielfältige Beziehungen wie miteinander. Was sich geändert hat, ist eine neue Außenministerin, die aus einer anderen Partei mit anderen Schwerpunkten kommt. Gleichzeitig hat sich die innenpolitische Situation in der Türkei verschärft, und um Demokratie und Menschenrechte ist es noch schlechter bestellt als bisher. Zudem trifft die Türkei Vorbereitungen für einen weiteren Feldzug in Nordsyrien.
Macht Deutschland Fehler im Umgang mit dem Streit zwischen Griechenland und der Türkei?
Ich glaube nicht, dass die Haltung der Bundesregierung in der Vergangenheit ein großer Fehler war. Über die Lieferung von U-Boot-Komponenten lässt sich freilich streiten.
Dabei geht es um ein sehr umstrittenes Thema, sowohl in Deutschland als auch in Griechenland. Wird Ankara die deutschen U-Boot-Komponenten dennoch bekommen?
Ich gehe davon aus, dass die Komponenten für die U-Boote auch geliefert werden. Das ist eine Entscheidung der alten Bundesregierung. Und ich sehe im Augenblick keine Bewegung in Deutschland, diese Entscheidung zu revidieren.
Machen Griechenland und Zypern Fehler im Umgang mit der Türkei?
Griechenland könnte vorschlagen, seine militärische Präsenz auf den Ägäis-Inseln zu reduzieren, wenn die Türkei gleichzeitig ihre Ägäis-Armee verkleinert und ihre aggressive Rhetorik verändert. Es geht um die Bildung von Vertrauen. Die Republik Zypern hat meines Erachtens zwei Fehler gemacht: Sie hat ihr Vertrauen bei den türkischen Zyprioten verspielt, so dass sich diese nach Ankara orientieren. Und sie hat den EU-Beitrittsprozess der Türkei zu lange blockiert. Jetzt, da die Türkei gar nicht mehr beitreten will, hat die EU Ankara gegenüber auch keine großen Druckmittel mehr.
Günther Seufert, Jahrgang 1955, ist studierter Soziologe, Autor zahlreicher Bücher und Publikationen über die Türkei und Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).