1968: Gretchen Dutschke zieht Bilanz
15. März 2018Mitte der 60er Jahre gingen tausende von Studenten auf die Straße. Sie kämpften unter anderem gegen autoritäre Strukturen an den Universitäten, gegen den Vietnamkrieg und gegen die Konsumgesellschaft. Der Spruch "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" wurde zum geflügelten Wort der sogenannten 68er-Bewegung in Deutschland und prangerte auch die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Zeit an. Einer der bekanntesten Wortführer war Rudi Dutschke, der 1968 bei einem Attentat schwer verletzt wurde und elf Jahre später an den Folgen des Attentats starb. Seine Witwe, Gretchen Dutschke, war gemeinsam mit ihm politisch aktiv. In Ihrem Buch "1968 - Worauf wir stolz sein dürfen", das sie bei der Leipziger Buchmesse vorstellen wird, zieht sie noch einmal Bilanz. Im Interview mit der Deutschen Welle erläutert die gebürtige Amerikanerin, warum ihr dieses Buch am Herzen lag.
DW: Im Untertitel Ihres Buches heißt es: "Worauf wir stolz sein dürfen". Worauf sind Sie stolz, wenn Sie auf die 68er zurückblicken?
Gretchen Dutschke: Was die antiautoritäre Bewegung in den 60er Jahren geschaffen hat, ist sehr bedeutungsvoll. Man kam damals aus einer Zeit, in der das autoritäre Denken der Nationalsozialisten noch sehr stark verankert war in den Köpfen. Es gab die Idee des totalen Gehorsams. Das hat sich enorm geändert.
Die Menschen sind heute kritischer, sie können für sich selbst denken und dürfen kreativer sein. Die Idee einer Demokratisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass die Demokratie wirklich in den Herzen der Menschen angekommen ist. Man hat 1951 eine Umfrage gemacht, wo nur zwei Prozent der Bevölkerung für die Demokratie gestimmt haben. Heute wäre es bestimmt die Mehrheit.
Sie haben bereits eine Biografie über ihren Mann, den Studentenführer Rudi Dutschke, geschrieben und auch seine Tagebücher veröffentlicht. Das neue Buch fasst noch einmal viele Etappen und Facetten der 68er-Bewegung zusammen. War es Ihnen ein Bedürfnis, nach 50 Jahren noch einmal Bilanz zu ziehen?
Ja, das war mir wichtig, weil es Leute gibt, die sagen, die ganze Bewegung sei gescheitert. Nein, sie ist nicht gescheitert! Sie ist total erfolgreich gewesen. Wenn die Leute gescheitert sagen, weiß ich nicht genau, was sie meinen, aber vielleicht meinen sie, dass die kapitalistische Wirtschaft noch existiert. Ja, das haben wir nicht geschafft. Wir haben damals auch die Antwort nicht gefunden. Das ist heute die Aufgabe.
Sie sehen also bewusst die positiven Auswirkungen, obwohl rechtspopulistische Parteien in Europa auf dem Vormarsch sind? Sie erwähnen ja in ihrem Buch auch Herrn Gauland, der damals schon auf der Gegenseite der Studentenbewegung stand und heute in der AfD [Alternative für Deutschland] wieder auf den Plan tritt.
Der Rechtspopulismus ist ein Problem, nicht nur in Deutschland. Wenn man die Länder rund um Deutschland sieht, da ist es viel schlimmer. Die AfD bekommt hier 15 Prozent, woanders dagegen haben Rechtspopulisten 50 Prozent. Dazu wird es in Deutschland hoffentlich nicht kommen.
Dass neue und alte Generationen diese [rechte] Denkweise wieder hochbringen, das gab es schon immer, aber sie hatten keine große Zuhörerschaft. Jetzt werden sie stärker, deshalb ist es eine riesige Aufgabe für die junge Generation, wieder zurückzukommen zu einer antiautoritären Bewegung.
Es betrifft ja auch nicht nur Europa. Guckt man nach Amerika oder anderswohin, dieser Rechtsextremismus wächst überall auf der Welt. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Und vielleicht wird die auch immer stärker.
Gibt es konkrete Beispiele, worauf Sie stolz sind?
Die Kindererziehung hat sich sehr geändert. Kinder werden viel antiautoritärer erzogen. Auch die Familien sind anders. Es wird nicht mehr erwartet, dass die Frau zu Hause bleibt mit den Kindern und der Mann arbeiten geht. Im Idealfall haben alle die gleichen Chancen.
Das war ja am Anfang der antiautoritären Bewegung - selbst bei den Männern, die von der großen gesellschaftlichen Revolution träumten - nicht der Fall. Die Rolle der Frau zu ändern, stand nicht auf dem Plan.
Am Anfang waren es überwiegend Männer und die haben die Frauen tatsächlich nur als Beihilfe gesehen. Das hat sich dann ab 1968 mit der Frauenrevolte geändert, und die Frauenbewegung hat sich sehr schnell verbreitet. Die antiautoritären Elemente wurden weitergetragen in die ganze Gesellschaft, das war ein wichtiger Faktor.
Wie haben Sie die Emanzipation in Ihrer Beziehung mit Rudi Dutschke gelebt?
Am Anfang musste ich Rudi erst einmal darauf aufmerksam machen, dass die Situation der Frauen nicht akzeptabel war. Das hatte er gar nicht so gemerkt, hat dann aber das Problem erkannt. Bei uns zu Hause musste er lernen zu kochen, die Windeln zu wechseln und solche Dinge, das hat er alles gemacht.
Wie weit waren Sie in die Frauenbewegung involviert?
Das Attentat auf Rudi war ja Anfang 1968 und die ganze Frauenrevolte, die kam danach. Zu der Zeit war ich gar nicht in Deutschland. Aber davor, von 1966 bis zum Attentat, da hatten wir eine kleine Frauengruppe vom SDS [Sozialistische Deutsche Studentenschaft], wo wir dann ohne Männer Bücher gelesen und diskutiert haben.
Meine große Idee in dieser ganzen Sache, wie es den Frauen besser gehen könnte, war ja die Idee von der Kommune. Das war ursprünglich meine Idee. Ich habe Rudi gesagt, lass uns das doch versuchen. Mit einer Kommune kann man organisieren, dass alle gleichmäßig am Lesen, am Theoretisieren und am Haushalt beteiligt sind. Das hat Rudi auch gut gefunden. Als wir damit angefangen haben, ist das zunächst in eine andere Richtung gelaufen. Aber am Ende war die ganze Wohngemeinschaften-Idee schon sehr verbreitet. Es war auch nicht so wie bei der"Kommune I", sondern die Menschen waren wirklich solidarischer miteinander.
Sie sprechen da von einer "Kulturrevolution".
Ich denke, das war eine Kulturrevolution, wo viele autoritäre Strukturen durchbrochen wurden und eine antiautoritäre Erziehung, antiautoritäre Strukturen in den Schulen, an den Arbeitsplätzen und zu Hause Einzug hielten.
Wenn man die #MeToo-Debatte verfolgt, scheinen die Strukturen aber noch nicht endgültig aufgebrochen zu sein.
Es gibt natürlich diese patriarchalischen Strukturen, die sehr stark sind. Aber es ist wichtig, dass es weitergeht. Die Sache ist nicht gelöst, das ist klar. Die Strukturen soweit zu ändern, dass Frauen die gleiche Chance haben und sich gegen Männer, die denken sie hätten das Recht, Frauen so zu behandeln wie sie Lust haben, durchsetzen, das muss auch in der Erziehung geschehen. Es ist schon eine große Aufgabe, die die jungen Menschen vor sich haben.
Sie haben das Buch Ihren Enkeln gewidmet, warum?
Weil man auf die Zukunft guckt und die Hoffnung hat, dass die nachfolgenden Generationen die Idee, dass es den Menschen besser gehen soll, weitertragen.
Was würden Sie den jungen Leuten aus ihren Erfahrungen aus den 60er und 70er Jahren mit auf den Weg geben?
Dass sie sich erst einmal über die Situation in der Gesellschaft bewusst werden und sich dann mit anderen Menschen, die auch eine bessere Welt schaffen wollen, zusammen tun. Dass man sich zusammen überlegt, welche Ziele man hat und wie man sie erreichen könnte.
Das hat die Sozialistische Deutsche Studentenschaft gemacht. So eine Organisation mit Fürsprechern fehlt heute sicherlich. Auch heute braucht es Fürsprecher: Menschen, die bereit sind, die Bevölkerung in Dialog zu bringen, dass man über die Probleme diskutiert und versteht, was los ist.
Das Buch von Gretchen Dutschke, 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen, ist in der kursbuch.edition erschienen, 220 Seiten, ISBN 978-3-96196-006-4