Die Empörung in Deutschland über die Weigerung der EZB, ihre expansive Geldpolitik zu beenden, nimmt wieder zu und wird sich wohl auch nach der nächsten EZB-Entscheidung Anfang Juni weiter verschärfen. Die Wirtschaft brummt doch, die Inflation steigt, und die Risiken werden geringer, so die Wahrnehmung vieler in unserem Land. Stimmt das? Handelt die EZB falsch, und ist sie gar an vielen Problemen schuld, wie unserem Handelsüberschuss, wie von manchen behauptet? Oder ist die deutsche Kritik zu sehr auf die kurzfristigen eigenen Interessen ausgerichtet?
Es ist zu früh, die geldpolitischen Zügel anzuziehen, denn die Wirtschaft der Euro-Zone ist heute kaum größer als noch 2008, und die Arbeitslosenquote ist noch viel zu hoch. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die EZB noch immer ihr Mandat der Preisstabilität verfehlt. Zwar sind die neuesten Inflationszahlen für Deutschland ermutigend, sie beruhen jedoch auf kurzfristigen Entwicklungen. Es ist zweifelhaft, ob die EZB bis Ende 2018 ihr Ziel der Preisstabilität erreichen kann. Solange sie sich dessen nicht sicher sein kann, kann sie auch nicht ihren geldpolitischen Kurs ändern.
Exit käme viel zu früh
Die zweite Kritik in Deutschland, dass die EZB zu spät handelt und den richtigen Zeitpunkt des Ausstiegs verpasst, ist wichtig. Die Risiken eines zu frühen Ausstiegs sind zurzeit jedoch deutlich höher als die eines zu späten. Diese Erfahrung hat die EZB 2008 und 2011 gemacht, als sie die Zinsen anhob und dann von den Krisen eingeholt wurde. Die EZB kann die Risiken durch den Brexit, die Wirtschaftspolitik von US-Präsident Trump, die Schieflage vieler Banken und die geopolitischen Risiken nicht ignorieren. Die expansive Geldpolitik hat zweifelsohne Risiken für den kleinen deutschen Sparer und viele deutsche Finanzinstitutionen. Richtig ist jedoch auch, dass es in unserem ureigenen Interesse ist, wenn die EZB mit ihrer Geldpolitik hilft, ein Ende der europäischen Krise zu ermöglichen, und somit auch Wachstum und Jobs in Deutschland langfristig sichert.
Besonders verstörend an der deutschen Kritik an der EZB ist die Doppelmoral, mit der sie vorgebracht wird. So wie die Bundesregierung die europäischen Reformvorschläge des neuen französischen Präsidenten Macron ablehnt, so hat sie auch wiederholt die EZB für Deutschlands hohen Handelsüberschuss verantwortlich gemacht, um von eigenen Fehlern abzulenken.
Die deutsche Politik ist gut darin, Kritik an unseren europäischen Nachbarn für ihre fehlenden Strukturreformen und zu hohen Schulden auszudrücken. Sie kritisiert zu Recht, dass viele der anderen Europäer sich nicht an die gemeinsamen europäischen Regeln halten.
Deutschland bricht die Regeln
Dabei hält Deutschland sich selbst nicht an diese Regeln. So verletzt Deutschland bereits seit vielen Jahren mit seinem Leistungsbilanzüberschuss von mittlerweile über acht Prozent die gemeinsamen Regeln. Anstelle dies anzuerkennen und sich aktiv an die Lösung des Problems in Deutschland zu machen, versucht die Bundesregierung, diese Regeln zu umgehen, sie als unsinnig abzutun und eigene Fehler zu leugnen.
Besonders zynisch ist der Versuch, andere für die eigenen wirtschaftspolitischen Fehler verantwortlich zu machen. So hat nicht die EZB oder die Wirtschaftspolitik anderer europäischer Länder Schuld an Deutschlands exzessivem Handelsüberschuss, sondern zuallererst die deutsche Politik. Verantwortlich für den Handelsüberschuss sind nicht die Exporte oder der Euro, sondern Deutschlands große Investitionsschwäche, die vor allem durch unzureichende Rahmenbedingungen für private Investitionen wie eine überbordende Bürokratie, regulatorische Unsicherheit, zunehmenden Fachkräftemangel und zu geringe öffentliche Investitionen in Bildung, Innovation und Infrastruktur verursacht wird.
Dabei würde Deutschland am meisten vom Abbau des Handelsüberschusses durch höhere Investitionen profitieren, denn das würde das Wachstum, Einkommen und den Wohlstand der deutschen Bürgerinnen und Bürger verbessern.
Wenn Deutschland seine Wirtschaftspolitik verbessern und Europa reformieren will, dann müssen wir zuallererst von unserem hohen Ross herunter und unsere Doppelmoral beenden. Deutschland kann glaubwürdig Reformen von seinen Nachbarn nur einfordern, wenn es sich selbst an die europäischen Regeln hält. Andere für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen, wie es die Bundesregierung mit der EZB für den deutschen Handelsüberschuss tut, ist nicht nur falsch, sondern schädlich für Europa.
Marcel Fratzscher leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Er ist zudem Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität Berlin.
Der Artikel ist am 29. Mai 2017 zuerst im Handelsblatt erschienen.
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