Die jüngsten Proteste im Iran wurden allesamt durch soziale und wirtschaftliche Probleme ausgelöst. Aber ihre Wurzeln liegen in jahrelangen politischen Missständen, und deswegen wiederholen sie sich in regelmäßigen Abständen. Zugleich ist die brutale Niederschlagung dieser Proteste durch das Regime ein altbekanntes und trauriges Phänomen. Doch die Behörden geben dessen ungeachtet ihre üblichen verdrehten Erklärungen ab und warnen vor einer "Verschwörung des Feindes" gegen die Nation.
Was bedeuten die Proteste für den Iran? Kein Versprechen der Revolution von 1979, einschließlich der sozialen Gerechtigkeit, wurde eingehalten. Deswegen warnen Beobachter wie der deutsch-iranische Politikwissenschaftler Ali Fatkollah-Nejad, dass "innerhalb der sozioökonomischen, politischen und ökologischen Dreifachkrise die politische Krise das Gravitationszentrum darstellt".
Neuer Präsident, alter Ansatz
Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage des Landes spekulieren einige Iraner, dass nun das Ende der Islamischen Republik in Sicht sei. Ich befürchte jedoch, dass das Regime alles tun wird, um sein Überleben zu sichern. Selbst wenn dies bedeutet, dass hungrige und durstige Demonstranten in Massen erschossen und die Straßen der Städte in ein Blutbad verwandelt werden.
Meine Sorgen sind deshalb besonders groß, weil nun Ebrahim Raisi Präsident ist - einer der berüchtigsten Menschenschinder in der Islamischen Republik. Der alternde Oberste Führer Ali Khamenei ist offenbar nicht mehr bereit, ein Risiko mit den sogenannten "gemäßigten" oder "reformorientierten" Fraktionen einzugehen. Dabei wurden schon während der Präsidentschaft des vermeintlich "gemäßigten" Hassan Rohani bei den Protesten im November 2019 Hunderte Iraner von den Sicherheitsbehörden getötet.
Dennoch bevorzugt der Oberste Führer Irans eine Regierung, die einen noch härteren Ansatz verfolgt. Eine Regierung, die nicht nur seinen Befehlen, sondern auch seiner langfristigen Vision für die Islamische Republik über seine Lebenszeit hinaus treu bleibt. Eine Vision, in der die Angst eine entscheidende und noch ausgeprägtere Rolle beim Weg aus dem gegenwärtigen Chaos spielen wird.
Machtkonsolidierung durch Kompromisse?
Die iranischen Hardliner wissen sehr wohl, dass sie eine gewisse Annäherung in Form von wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA und dem Westen brauchen, um zu überleben. Sie wollen jedoch einen Weg aus dieser Sackgasse finden, ohne Kompromisse bei ihrer ideologischen anti-westlichen und antisemitischen Rhetorik einzugehen und ohne ihre regionalen Machtambitionen aufzugeben. Noch ist unklar, wie die neue Hardliner-Regierung der Islamischen Republik einen Weg finden will, sich mit der Biden-Regierung zu versöhnen und die Aufhebung der US-Wirtschaftssanktionen zu erreichen. Da das Lager der Reformer jedoch weiter geschrumpft ist, sind die Hardliner möglicherweise eher bereit, auf internationaler Ebene Zugeständnisse zu machen. Sie spekulieren, dass verbesserte Beziehungen zum Westen ihre Herrschaft langfristig sichern könnten.
Kampf gegen die eigene Bevölkerung
Meine Kindheit habe ich damit verbracht, meine Eltern in iranischen Gefängnissen zu finden und zu besuchen, weil sie für die Menschenrechte im Iran gekämpft haben. Um so erschütterter bin ich darüber, dass heute Millionen iranischer Kinder und Jugendlicher weiterhin mit Repressionen und zunehmender Armut konfrontiert sind.
Als ich im post-revolutionären Iran aufwuchs, bezeichnete die Führung des Landes anti-revolutionäre und säkulare Menschen wie meine Familie als verwestlicht, ungläubig und als Staatsfeinde. Sie sagten, wir bedrohten den Wohlstand der eigentlichen Wählerschaft der Islamischen Republik, der sogenannten unterdrückten ("mostazafin") Klasse - der islamischen Nation ("Umma"), deren Interessen sie angeblich gegen die unsrigen vertraten.
Vier Jahrzehnte später ist es genau diese islamische Nation - der Teil der Bevölkerung, den sie zu vertreten vorgab - die sich gegen das Regime auflehnt, weil sie hungert, keine Arbeit findet und in besonders häufig am Coronavirus stirbt. Und dennoch setzen die Behörden scharfe Munition ein, um genau diese Umma, die sie einst als ihre eigene bezeichneten, in Schach zu halten. Genau das ist die Notlage des iranischen Volkes heute.
Azadeh Pourzand ist Mitbegründerin und Direktorin der Siamak Pourzand Foundation, einer Organisation, die sich für die Förderung der Menschenrechte und insbesondere der Meinungsfreiheit im Iran einsetzt. Derzeit arbeitet sie als Doktorandin für globale Medien und Kommunikation an der School of African and Oriental Studies (SOAS) der Universität London.