Frankreich Atomenergie
4. Januar 2012Seit Herbst werben die Mitglieder des Verein négaWatt bei zahllosen Podiumsdiskussionen für ihr Szenario zum einheimischen Energie-Ausblick für das Jahr 2050. Der Name der Organisation ist Programm: Negawatt wird eine Einheit genannt, die theoretisch misst, wie viel Wattstunden dank höherer Energieeffizienz und Sparmaßnahmen nicht produziert werden müssen. NégaWatt wurde vor zehn Jahren von Energieexperten, Ingenieuren und Profis aus dem Bauwesen in Paris gegründet und versteht sich als Denkfabrik.
Das anfängliches Ziel: den bewussten Umgang mit Energie zu fördern und den CO2-Ausstoß zu senken. Nach zwei ersten Energie-Szenarien, 2003 und 2006, beschloss der Verein im August 2010, seine Arbeit komplett neu aufzurollen und auszuweiten. Das war Monate, bevor im vergangenen März ein Tsunami zur atomaren Katastrophe in japanischen Atomkraftwerken führte und bevor im Sommer Deutschland den Ausstieg aus der Atomkraft beschloss.
Die Vernunft zwingt zum Atomausstieg
Die Ereignisse geben der Studie von négaWatt in Frankreich vehementen Auftrieb. "Uns ist keine Anti-Atom-Religion zu eigen", erklärt Vereinspräsident Thierry Salomon. Dennoch sei dem Experten-Verein klar, dass "die Atomstromproduktion nicht den Erwartungen an eine verträgliche Energieproduktion entspricht", sagt Salomon und verweist auf die ungelöste atomare Endlagerung und auf die Strahlenrisiken.
Fast 100 Prozent Erneuerbare Energien bis 2050
In dem umfassenden Szenario hat der Verein négaWatt seine Vorstellungen für eine Energiewende in Frankreich durchgerechnet. Alle Energiequellen und den nötigen Energiebedarf für alle Bereiche wie Wärme, Mobilität, Strom und Industrie beziehen die Experten in ihr Szenario ein. Während heute die Erneuerbaren Energien nur einen kleinen Teil des französischen Energiemix sind, sollen sie 2050 fast den kompletten Energiebedarf decken. Statt Atomkraft, Öl und Kohle sollen die wichtigsten Energieträger dann Biomasse, Wind- und Sonnenkraft sein. Ein wichtiger Stützpfeiler in dem Szenario ist aber auch die Einsparung von Energie durch Effizienz und Mäßigung. In zahlreichen Grafiken präsentieren die Experten auf ihrer Webseite und der interessierten Öffentlichkeit den neuen Energiemix.
Atomausstieg bis 2033
Yves Marignac leitet das Pariser Büro von WISE, dem unabhängigen "Welt-Informationsdienst Energie" und ist der Atomexperte beim Szenario négaWatt. Marignac sagt: "Achtzig Prozent der französischen Atomkraftwerke sind zwischen 1977 und 1987 ans Netz gegangen. Das bedeutet, dass bei einer Lebensdauer von 40 Jahren wir 2027 mit Atomstrom gegen die Wand rennen." Bis dahin müsse die große Mehrheit der Reaktoren abgeschaltet und um 2033 der Ausstieg perfekt sein, hält der Energieexperte fest. Einen früheren Ausstieg hält Marignac kaum machbar, weil die erneuerbaren Energiequellen erst hochgefahren werden müssen, einen späteren Ausstieg hält er wegen absehbarer Sicherheitsprobleme für nicht verantwortbar."
Kehrtwende mit Effizienz
Mit seinem Szenario négaWatt rüttelt der Expertenverein an einem Thema, das für die Regierung noch tabu ist. Zwar hat Staatspräsident Sarkozy im vergangenen Juni öffentlich angekündigt, der Anteil der Atomenergie an der Stromproduktion im Land würde von derzeit 78 Prozent mittelfristig auf 40 Prozent, also um knapp die Hälfte, zurückgehen. Doch dabei verschweigt er, dass der allgemeine Strombedarf weiter steigt. Eine Tendenz, die négaWatt umkehren will.
Dank dreier Leitworte: Mäßigung, Energie-Effizienz, erneuerbare Energien, sagt Vereinsmitglied Marc Jedliczka: "Der Energiebedarf lässt sich zum einen mit technischen Mitteln sehr stark senken." Unabdingbar erscheint négaWatt eine gute Wärmeisolierung für alle Gebäude im Land. Elektrische Geräte, Autos ließen sich sparsamer machen. "Und mit unserem Schlagwort "mehr Mäßigung" fordern wir die Bürger und die Gemeinschaft zum Umdenken auf", sagt Jedliczka. Beispielsweise müsse die Politik gerade im urbanen Bereich komplett überdacht werden, "um die Wege zwischen Wohnung und Arbeit zu verkürzen".
Genügsamer Energiekonsum
Die deutsche Energiewende dient dem französischen Verein als Vorbild. So erhofft sich négaWatt viel vom derzeit im Nachbarland diskutierten Verfahren, mit synthetisch erzeugtem Methangas Energievorräte anzulegen. "Da haben die Deutschen im operationellen Bereich einen großen Vorsprung, bei ihnen ist der politische Kontext ein anderer", resümiert Jedliczka. Was aber das Szenario négaWatt ihnen voraus habe, sei die Auseinandersetzung mit dem Bereich Mäßigung beim Energieverbrauch: "In unserem Szenario ist das einer der Stützpfeiler beim Kurswechsel."
Studie mit großer Resonanz
Bislang wurde die Option Atomausstieg in keiner offiziellen Studie auch nur angedacht. So sorgt négaWatt für hohe Wogen. "Ein Erdbeben im Energiebereich", betitelt die konservative Tageszeitung Le Figaro ihren Bericht zum alternativen Energie-Szenario, während die linke Libération schreibt: "Atomenergie: hier geht's zum Ausstieg". Die Wirtschaftswochenzeitung Challenge hält fest, dass die Arbeiten von négaWatt "einen neuen Weg für den Energie-Ausblick öffne, auch wenn der manchen sehr missfalle". Einigkeit herrscht rundum bei einer Feststellung: die vom Experten-Verein postulierte Energiewende sei ein wichtiges Thema bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Land. Bei seinen Podiumsdiskussionen sorgt der Verein négaWatt derzeit landesweit für volle Häuser.
Autor: Suzanne Krause
Redaktion: Gero Rueter