Sippenhaft in Nordkorea
2. Februar 2014Dezember 2013. Das nordkoreanische Staatsfernsehen zeigt Bilder, die es sonst aus dem abgeschotteten ostasiatischen Land nicht zu sehen gibt: Jang Song Thaek, Onkel und Mentor von Diktator Kim Jong Un, wird während einer Sitzung des Politbüros der Arbeiterpartei abgeführt. Die Nachrichtenagentur KCNA meldet, der Vizechef der Nationalen Verteidigungskommission sei all seiner Ämter enthoben und aus der Partei ausgestoßen worden. Jang Song Thaek wird als Hochverräter bezeichnet; er habe ein Doppelspiel betrieben und Umsturzpläne geschmiedet. Daneben werden ihm auch Drogenmissbrauch, Glücksspiel, Korruption und Beziehungen zu mehreren Frauen vorgeworfen. Wenig später wird er hingerichtet.
Aber: Starb nur er selbst - oder wurden auch Familienangehörige exekutiert? Vor wenigen Tagen berichtete die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap unter Berufung auf anonyme Quellen, es gebe Hinweise darauf, dass auch enge Verwandte des angeheirateten Kim-Onkels umgebracht wurden. Unter den Opfern seien nicht nur zwei Botschafter Nordkoreas, sondern beispielsweise auch die Kinder und Enkel zweier Jang-Brüder.
Weitere Todesfälle im Umfeld der ehemaligen "Grauen Eminenz"?
Eine Bestätigung dafür gibt es von nordkoreanischer Seite bislang nicht. Christoph Pohlmann, Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Seoul, warnt vor einem vorschnellen Urteil. "Grundsätzlich ist nicht auszuschließen, dass es mehrere oder alle Familienmitglieder von Jang Song Thaek getroffen hat, denn in Nordkorea gilt ja allgemein das Prinzip der Sippenhaft", so Pohlmann gegenüber der DW. "Man sollte aber belastbarere Geheimdienstinformationen von unterschiedlichen Seiten - beispielsweise aus China - abwarten, bevor man so etwas als authentisch und wahrheitsgemäß einstuft."
Auch nach Ansicht von Rüdiger Frank, Professor am Institut für Ostasienkunde an der Universität Wien, sind derartige Meldungen erst einmal mit Vorsicht zu genießen. "Es wäre relativ ungewöhnlich, wenn die betreffenden Verwandten auch getötet würden, üblicherweise verlieren solche Leute ihren Job, oder landen in Lagern."
Dass die Angehörigen Jang Song Thaeks persönliche Konsequenzen tragen müssen, steht dagegen für Frank außer Frage - und sei auf grausige Art normal. "Wenn ein hochrangiges Mitglied der nordkoreanischen Führung wegen derart schwerer Vorwürfe bestraft wird, dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch seine Familie bis ins letzte Glied bestraft wird. Mindestens drei Verwandtschaftsgrade sind betroffen." Und: Verbrechen verjähren in der kollektivistisch verfassten nordkoreanischen Gesellschaft - je nach Schwere der Tat - erst nach Jahrzehnten, können sogar bis zu drei Generationen weiter "vererbt" werden.
Neuer Säuberungs-Stil in der Ära Kim Jong Un
Der quasi öffentliche Tod Jang Song Thaeks ist nicht die erste Säuberung seit dem Amtsantritt Kim Jong Uns vor etwas mehr als zwei Jahren. Schnell begann der junge Diktator, einflussreiche Personen, die einst seinen Vater umgeben hatten, aus Machtpositionen zu entfernen. Prominentes Beispiel: die Absetzung des ehemaligen nordkoreanischen Armeechefs Ri Yong Ho im Sommer 2012. Bei der Beerdigung Kim Jong Ils hatte er noch gemeinsam mit Kim Jong Un und auch Jang Song Thaek zu den acht Männern gezählt, die das Fahrzeug mit dem Sarg des Verstorbenen begleitet hatten.
Dass der Fall Jang Song Thaek so hohe Welle schlug, hängt vor allem mit der vergleichsweise offenen Informationspolitik der sonst so verschlossenen Führung in Pjöngjang zusammen. "So etwas habe ich noch nicht erlebt", sagt Rüdiger Frank, "das ist in dieser Art und Weise auch verglichen mit früheren Säuberungen beispiellos". Über die Gründe ließe sich nur spekulieren, es könnte sich um ein Signal an potenzielle Nachahmer handeln, oder auch einfach Ausdruck des Charakters des jungen Diktators sein.
Jahrzehntelange Tradition
Säuberungswellen gab es Nordkorea auch in früheren Jahrzehnten immer wieder. Eine großangelegte Aktion fand in den 50er Jahren statt, erklärt Christoph Pohlmann. Damals versuchte Staatsgründer Kim Il Sung seine noch relativ junge Herrschaft zu konsolidieren. "Er war nicht immer der uneingeschränkte Staatsführer, zu dem er später stilisiert wurde." Der junge Diktator - damals nur wenig älter als sein Enkel bei dessen Amtsantritt - ließ daraufhin Gegner mitsamt ihren Familien umbringen oder in den berüchtigten Lagern des Landes verschwinden.
Sohn Kim Jong Il setzte die grausame Tradition fort, allerdings eher im Verborgenen. "Als er sich in den 70er Jahren auf die Amtsnachfolge vorzubereiten begann, fing auch er an, Personen, die er als Gegner identifiziert hatte, aus dem Weg zu räumen, vermutlich mit Zustimmung des Vaters", so Pohlmann. Seine jahrzehntelange Vorbereitungszeit nutzte Kim Jong Il außerdem, um eine Riege von Getreuen aufzubauen. "Als er dann 1994 nach dem Tod Kim Il Sungs an die Macht kam, hat niemand daran gezweifelt, dass er der alleinige Führer ist und auch bleibt", sagt Rüdiger Frank. "Er kannte die Partei bestens, hatte loyale Unterstützer in Schlüsselpositionen. Das alles hatte Kim Jong Un nicht, da seine Machtübernahme relativ unerwartet kam."
Stehen weitere Säuberungen bevor?
Dass er entschlossen ist, an der Macht festzuhalten und keine Kritik duldet, das hat der junge Kim in den vergangenen gut zwei Jahren ein ums andere Mal bewiesen - zuletzt durch die Hinrichtung Jang Song Thaeks. Christoph Pohlmann von der Friedrich-Ebert-Stiftung rechnet damit, dass weitere Fälle folgen werden. "Es ist relativ wahrscheinlich, dass ein gewisser Elitenaustausch fortgesetzt wird. Aber es gibt auch einige dem Umfeld Jang Song Thaeks zugerechnete Personen, die ihre Positionen bis jetzt behalten haben.“ Das wiederum sei ein Indiz dafür, dass es nicht zu einer ganz großen Säuberungswelle kommt. "Das würde mit Sicherheit zu einer Destabilisierung führen, und daran kann Kim Jong Un nicht interessiert sein.“
Insgesamt sei das, was im Ausland über die Säuberungen hinter Nordkoreas Grenzen bekannt wird, nur die Spitze des Eisbergs, fasst Rüdiger Frank zusammen. "Das ist das eigentlich Erschreckende." Und eines hätte die jüngste Säuberung auf jeden Fall bewirkt: Viele Nordkoreaner würden jetzt in noch größerer Angst leben als zuvor.