Was lernen wir aus dem Gurlitt-Kunstfund?
27. Mai 2020Es war der wohl spektakulärste Kunstfund der Nachkriegszeit. Und es war ein Zufallsfund: 2012 ließ die Staatsanwaltschaft die Wohnung eines Münchner Senioren durchsuchen - aufgrund des Verdachts der Steuerhinterziehung.
Der Rentner war dem Zoll bei einer Zugfahrt über die Schweizer Grenze aufgefallen, da er zunächst leugnete, Bargeld bei sich zu haben, bei einer Leibesvisitation dann jedoch 9000 Euro zum Vorschein kamen. Die Beamten wurden hellhörig, es folgten weitere Ermittlungen und schließlich eine Wohnungsdurchsuchung.
Der Rest ist kunsthistorische Geschichte: Überraschend kamen in der Wohnung - und später auch in einem Haus in Salzburg - mehr als 1500 Kunstwerke zutage; Gemälde, Drucke, Radierungen und Stiche - beschlagnahmt wurden unter anderem Meisterwerke von Monet, Picasso, Liebermann, Beckmann und Matisse.
Verschrobener Kunstliebhaber
Auch der Name dieses unauffälligen Mannes, der 2014 an einer Herzerkrankung verstarb, ist deutschlandweit bekannt: Cornelius Gurlitt. Er ist der Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, einer der Haupteinkäufer Adolf Hitlers für das geplante "Führermuseum" in Linz. Der Fund wurde zu einem Medienkrimi, Gurlitt in der Boulevardpresse zu einem "mysteriösen Kunstsammler", der Menschen mied und sogar noch 2014 heimlich in seinem Koffer eine Monet-Zeichnung ins Krankenhaus schmuggelte.
Der alleinstehende Kunstliebhaber war Hüter der Sammlung seines Vaters, verkaufte für seinen Lebensunterhalt gelegentlich Werke, fügte aber nie Bilder hinzu. Über diesen verschrobenen Alten sind mittlerweile Bücher geschrieben, Filme gedreht und sogar Theaterstücke aufgeführt worden. Für Viele steht sein Name stellvertretend für den Kunstraub der Nationalsozialisten - zu Recht?
Mühsame Herkunftsforschung
Das untersuchte zunächst eine Taskforce und seit 2016 das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste (DZK) in Magdeburg. Nun sind die Forschungsarbeiten beendet. Doch der Abschlussbericht wirkt auf den ersten Blick ernüchternd: Nur 14 Werke von Künstlern wie Max Liebermann, Henri Matisse, Thomas Couture oder Adolph von Menzel wurden bisher eindeutig als Raubkunst identifiziert, 13 davon konnten an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben werden.
So wurden von den mehr als 1500 Kunstwerken zunächst rund 300 Positionen aussortiert, die die Künstlerfamilie Gurlitt bereits vor dem Nationalsozialismus besaß oder selbst gemalt hatte. Bei den verbliebenen Kunstwerken wurde dann über mehrere Jahre geprüft, wie sie in den Besitz der Familie Gurlitt gelangt sind - rechtmäßig oder durch Kunstraub. War der NS-Kunsthändler Nutznießer von Verfolgung und Enteignung jüdischer Sammler? Und wie lässt sich das heute, fast 80 Jahre später, noch nachvollziehen?
Großes, internationales Forscherteam
"Wir haben alles getan, was machbar war. Ich kann mich an keinen Fall in der Provenienzforschung erinnern, wo so intensiv gearbeitet wurde", sagt Gilbert Lupfer, Vorstand des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste im DW-Interview. Darin spiegelt sich keine übertriebene Selbstdarstellung, sondern eine wissenschaftlich nüchterne Einschätzung wider: "Ich glaube, mehr wäre nicht möglich gewesen. Ein größerer Einsatz an Fachleuten, an WissenschaftlerInnen und Geldwesen wäre kaum vorstellbar gewesen."
Die bloßen Zahlen würden hier wenig weiterhelfen, so Lupfer. Natürlich erscheinen 14 eindeutig identifizierte Fälle - im Hinblick auf die gesamte Sammlung - als sehr wenige. Dennoch: "Jeder einzelne aufgeklärte Fall ist ein Beitrag zu dem, was man als historische Gerechtigkeit bezeichnen könnte. Ich bin über jedes Stück froh, das wir identifizieren und zurückgeben konnten."
1000 Kunstwerke in der Grauzone
Die Provenienzforschung ist eine mühsame, akribische Arbeit, die genau prüft, wo und von wem Gurlitt ein Gemälde gekauft oder entwendet hat. Gleichzeitig muss nachgewiesen werden, dass genau jenes Gemälde im Besitz einer verfolgten Sammlerfamilie war. In einem Fall half den Forschern beispielsweise ein kleines Loch im Bild des "Portrait de jeune femme assise" von Thomas Couture. Anhand von Fotonachweisen konnte unter Infrarotlicht eine kleine Restauration genau an der Stelle nachgewiesen werden, wie sie von der Lebensgefährtin eines exekutierten französischen Politikers beschrieben wurde.
Doch bei sehr vielen Werken, rund 1000, bleibt die Herkunft ungewiss. "Es gibt eine große Grauzone", sagt Lupfer. Das Forschungsergebnis spiegele nicht nur die Möglichkeiten der Forschung, sondern auch deren Grenzen wider: "Viele Fragen müssen offen bleiben, weil es nach fast einem Jahrhundert keine Quellen mehr gibt." Die Sammlung gehört mittlerweile dem Kunstmuseum Bern, dem Cornelius Gurlitt seine Kunstwerke vor seinem Tod überraschend testamentarisch überlassen hatte.
NS-Kunstraub in Frankreich
Neue Erkenntnisse brachte die intensive Forschung aber auch darüber, wie der Kunstmarkt und der Kunstraub im besetzen Frankreich funktionierte. Anhand der untersuchten Geschäftspraktiken von Hildebrandt Gurlitt, der in Paris als einer der Haupteinkäufer des "Sonderauftrags Linz" für Hitlers geplantes "Führermuseum" tätig war, habe man die genauen Mechanismen des NS-Kunstraubs offenlegen können.
Der Kunsthändler habe "die ganze Klaviatur der legalen und illegalen Methoden" ausgespielt, so Lupfer. "Hildebrand Gurlitt hat versucht, seine Spuren zu verwischen. Keineswegs nur, wenn es um jüdisches Eigentum ging, auch aus steuerlichen Aspekten." So habe er Quittungen gefälscht oder auch französische Geschäftspartner geprellt - auch diese Verschleierungen machten eine Herkunftsbestimmung der Bilder schwierig.
Die Recherchen haben die länderübergreifende Forschung zwischen Deutschland und Frankreich auf "ein neues Niveau gehoben", resümiert Lupfer. Überhaupt hätte der Skandal um den Kunstfund dazu geführt, dass die Herkunftsforschung von NS-Kunstraub enorm gestärkt und auch von Seiten der Politik besser budgetiert werde. Dazu gehört auch die Gründung des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste vor vier Jahren.
Was bleibt?
Nun, da die Causa Gurlitt wissenschaftlich abgeschlossen ist - wie geht es weiter? Forschungsaufträge gibt es für das DZK genug, beispielsweise an Museen oder Bibliotheken. So öffentlichkeitswirksam wie der Gurlitt-Fund sind sie aber bei weitem nicht.
Es bleibt ein fahler Nachgeschmack: Warum wurde die Sammlung und mit ihr ein 80-jähriger, vermutlich nicht zurechnungsfähiger Mann derart in die Öffentlichkeit gezerrt? Warum werden nicht Ankäufe oder vermeintliche Schenkungen aller deutscher Kunstmuseen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ins Internet gestellt, um mögliche enteignete Besitzer zu ermitteln - also so, wie mit der Sammlung Gurlitt verfahren wurde?
Zwar gehen einige deutsche Museen hier mit gutem Beispiel voran wie das Wallraf-Richartz-Museum in Köln oder das Leopold-Hoesch-Museum in Düren. Doch nicht jedes deutsche Museum arbeitet derart gewissenhaft an der Aufarbeitung der Museumsbestände im Hinblick auf NS-Raubkunst.
Offene Fragen bleiben auch hinsichtlich des Kunsthandels: Wie war es möglich, dass der Kunstmarkt sehr wohl um die Gurlitt-Schätze wusste und diese auch nach dem Krieg immer wieder kaufte und versteigerte? "Offensichtlich wusste man auch im Kunsthandel: Der Sohn vom alten Hildebrand hat noch ganz interessante Stücke", sagte Lupfer der Deutschen Presse-Agentur dpa. Die habe der Handel "immer mal wieder entgegengenommen und verkauft", so dass das Geschäft "relativ ungebrochen weiter funktionierte".
Die Causa Gurlitt mag abgeschlossen sein, doch weitere Untersuchungen zu fragwürdigen Beständen und der Rolle des Kunsthandels scheinen nicht nur lohnenswert, sondern zwingend erforderlich.