Fünf Plädoyers: Was Kultur für die Demokratie leistet
12. September 2020"A Plea for Democracy and Culture", so war die englischsprachige Diskussionsveranstaltung beim Internationalen Literaturfest in Berlin (ILB) betitelt. Dass ein Plädoyer für Demokratie und Kultur nottue, stehe außer Frage, meint Ignacio Olmos, Institutsleiter des spanischen Kulturinstituts Instituto Cervantes in Berlin.
Die Demokratie stehe auch in vielen nominell demokratischen Ländern unter Beschuss, erklärte er in seiner Einführung: Wenn der amerikanische Präsident das Regieren nach den Regeln des Gesetzes außer Kraft zu setzen droht und so die Grundfesten einer traditionell stabilen Demokratie erschüttert, wenn die Digitalisierung totale Überwachung ermöglicht, wenn der Nationalismus vielerorts auf dem Vormarsch ist.
Aber ist dann auch die Kultur in Gefahr? Stehen Kultur und Demokratie zwangsläufig in einem Verhältnis? Stützt die Kultur grundsätzlich demokratische Strukturen? Fünf prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller hatten sich über diese Fragen Gedanken gemacht.
Literatur kein schmückendes Beiwerk
Für Mario Vargas Llosa, gemeinsam mit Literaturnobelpreisträgerin Olga Tocarczuk Stargast des Festivals, ist die Antwort klar. Die Kultur hat dieselbe fortschrittsfördernde Wirkung wie die ihr zugehörige Literatur. Sie sei nicht schmückendes Beiwerk oder reine Unterhaltung, als die sie in demokratischen Staaten manchmal angesehen werde, sondern "eine Waffe, mit deren Hilfe wir den Kampf gegen die Missstände in unseren Gesellschaften aufnehmen" könnten.
Man müsse nur nach Belarus, nach Kuba, Venezuela oder Nicaragua blicken, um zu erkennen, wie wichtig es sei, durch die Kunst, vor allem die Literatur, den Möglichkeitssinn zu wecken. "Zuerst träumen wir, und dann machen wir unsere Träume wahr. Der erste ist es, frei zu werden."
Die in Berlin lebende Sharon Dodua Otoo beschreibt sich selbst als schwarze, britische Mutter, Aktivistin, Autorin und Herausgeberin. Die Bachmannpreisträgerin von 2016 zeichnet sich durch ein unfreiwillig entwickeltes Gespür für latenten Rassismus aus. In ihrem Statement zitiert sie die erste schwarze Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, die 2004 nach der Wiederwahl von George W. Bush als US-Präsident daran erinnerte, dass Schriftsteller gerade in schwierigen Zeiten ihre Stimme erheben müssten: "In times of dread, artists must never chose to remain silent."
Otoo erhebt ihre als engagierte Intellektuelle, die Rassismus und Verfolgung von Schwarzen beobachtet und selbst erlebt. "Wie die Kanarienvögel in den britischen Kohleminen im 19. Jahrhundert atmen Schwarze die giftigen Dämpfe des Rassismus ein." Im Sommer 2020, in der vergifteten Atmosphäre nach dem Mord an George Floyd, habe sie sich gefragt, wie sinnvoll es überhaupt noch sein könnte, sich auf die Kultur zu konzentrieren.
Was nütze denn ein Schriftsteller, wenn Synagogen angegriffen würden, wenn Flüchtlinge trotz Corona in Massenunterkünften eingepfercht blieben, in einem Land, wo Hassprediger in Talkshows auftreten könnten? "Als Schriftstellerin kann ich keine Synagogen schützen und ich kann die unmenschlichen Flüchtlingsunterkünfte nicht abschaffen. Aber ich kann Zeugnis ablegen. Ich kann meine Literatur in den Dienst Schwarzen Lebens stellen."
Schriftsteller müssen Position beziehen
Doch wie engagiert dürfen Schriftsteller sein? Für Otoo ist die Antwort eindeutig. Die Kultur könne angesichts von Rassismus, Gewalt und undemokratischen Tendenzen nicht neutral bleiben. "I'm a fighter. It's impossible to remain neutral."
Pankaj Mishra dreht die Fragestellung um, indem er nicht nach der Aufgabe der Kultur fragt, sondern nach der Rolle der Demokratie. Der in London lebende indischer Autor, Essayist und Kritiker stammt aus einem Land, dessen Regierung demokratisch gewählt wurde, das aber auf dem Weg in die Diktatur sei.
Mishra ist erklärter Gegner der hindu-nationalistischen Regierung, die immer mehr Schriftsteller und andere Intellektuelle verhaften oder sogar umbringen ließe, kaum von der Weltöffentlichkeit bemerkt. In seinem Heimatland gerate die Literatur unter extremen gesellschaftlichen Druck. Als Schriftsteller fühle er sich oft machtlos. Von außerhalb sei es einfach, hohe moralische Ansprüche an Autoren zu richten, die doch oft angegriffen würden und in Unsicherheit leben müssten.
Welche Funktion hat die Kultur noch?
Seine Aufgabe als Schriftsteller sieht Mishra darin, eingeübte Muster infrage zu stellen. "Die Kultur ermächtigt uns, die Muster, die uns gelehrt wurden, infrage zu stellen. Und das müssen wir, um mit unseren jeweiligen Gesellschaften fruchtbar verbunden zu sein."
Die 1982 in Bremen geborene Autorin, Lyrikerin und Publizistin Nora Bossong erinnert daran, dass Kultur nicht per se gut sei. Sie schütze nicht vor Mord und Vernichtung. "Während die Juden in den Tod geschickt wurden, spielten die Radiostationen die schönste klassische Musik." Die moralische Hoheit der Kultur sei - historisch zynisch bewiesen - oft Illusion.
Ihr eigenes Interesse als Autorin sei es, die blinden Flecken der Vergangenheit zu durchleuchten. "Das ist die Aufgabe von Autoren: unideologisch tief in individuelle Persönlichkeiten einzutauchen, die durch das Erbe der Vergangenheit geformt werden, das wir oft nicht sehen wollen."
Wo ist Europa als gemeinsamer Kulturraum?
Daniel Kehlmann, der mit seinem Roman "Die Vermessung der Welt" zum Bestsellerautor in 40 Sprachen wurde, beklagt die Renationalisierung als politische Reaktion auf die Pandemie. "Die EU ist verschwunden. Vor kurzem sprachen wir noch von einem vereinten Europa von Palermo bis Tallin. Doch plötzlich wurden die Grenzen wieder verstärkt."
Warum müsse etwas so Universelles wie der Virus entlang von Grenzen bekämpft werden? Das sei wie eine seltsame Reise zurück in die Fünfzigerjahre. Kehlmann fordert mehr Offenheit, die Möglichkeit weiter zu reisen - und die Wiederbelebung von Kultur: "Literatur, Theater, Musik erinnern uns daran, dass es etwas außerhalb unseres Dorfes gibt!"
Ein gemeinsamer Nenner dieser fünf unterschiedlichen Positionen kam an diesem denkwürdigen Abend nicht zustande. Dazu war das Thema zu groß. Erschöpfend zu klären, was die Kultur in den unterschiedlichsten Ländern der Welt leisten könnte, um die Demokratie zu stärken, wäre eine Mammutaufgabe. Doch schlaglichtartig darüber zu sprechen, ist genau das: ein kultureller Akt, der die Demokratie stärkt.