Europa: Was tun gegen zweiten Lockdown?
20. September 2020"Katastrophal", "desaströs" und "verheerend": Die Worte, mit denen europäische Staats- und Regierungschefs die Folgen eines möglichen zweiten Lockdowns beschreiben, sind mehr als deutlich.
Um das Coronavirus einzudämmen, wurde im Frühjahr das öffentliche Leben beinahe überall in Europa heruntergefahren. In den Sommermonaten entspannte sich die Lage vielerorts. Doch seit Wochen steigen die Infektionszahlen in fast allen europäischen Ländern erneut an.
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden in Europa täglich zwischen 40.000 und 50.000 Neuansteckungen registriert. Dies sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass überall mehr getestet werde. "Die Zahlen vom September sollten ein Alarmsignal für uns alle sein", erklärte der WHO-Europadirektor, Hans Kluge. Die wöchentlichen Infektionszahlen übersteigen laut der UN-Organisation inzwischen sogar die Werte der ersten Hochphase im März.
Länder setzen auf regionale Beschränkungen
Mit dem Anstieg der Infektionszahlen wächst auch die Sorge vor erneuten landesweiten Lockdowns. Besonders in Spanien und Frankreich hatten die drastischen Einschränkungen im Frühjahr zu einem massiven Einbruch der Wirtschaft geführt - und gerade in diesen beiden Ländern schießen die Infektionszahlen derzeit wieder in die Höhe. Frankreich will trotzdem - so lange es geht - landesweite Ausgangsbeschränkungen vermeiden. Stattdessen setzen die Behörden auf verschärfte Maßnahmen in den besonders betroffenen Städten Paris, Marseille, Bordeaux, Nizza und Toulouse. Dort gelten Versammlungsverbote, Sperrstunden für Bars und eingeschränkte Besuche in Altenheimen. In Paris und anderen Gebieten muss beim Verlassen der eigenen Wohnstätte grundsätzlich eine Mund- Nasenmaske getragen werden.
Drastischere Maßnahmen sollen ab Montag (21. September) in der spanischen Hauptstadt Madrid in Kraft treten. Sechs Stadtteile und sieben Kommunen im Umland dürfen dann nur noch für dringende Angelegenheiten betreten oder verlassen werden - etwa für die Arbeit, für Arztbesuche, die Schule oder nach einer Vorladung der Justiz. Das kündigte die Regionalpräsidentin Isabel Ayuso an. Ähnliche Absperrungen gibt es auch in anderen Teilen des Landes, etwa auf Mallorca.
Betroffen sind Wohngebiete, in denen die Zahl der Neuinfektionen bei mehr als 1000 pro 100.000 Einwohner binnen 14 Tagen liegt. Das sei eine "ganz schlimme Zahl", die zum Handeln gezwungen habe, sagte Ayuso. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die so genannte Sieben-Tage-Inzidenz derzeit bei etwa 13.
"Einen kompletten Lockdown wollen wir verhindern, es wäre ein Rückschritt und ein Desaster für unsere Wirtschaft", sagte die Regionalpräsidentin der Hauptstadt Madrid. "Wenn wir uns alle an die neuen Regeln halten, wird sich unsere Region schnell wieder erholen."
Nicht nur in Süd- und Westeuropa wären die wirtschaftlichen Folgen eines zweiten harten Lockdowns gravierend. Auch in Deutschland warnen Wirtschaftsverbände vor möglichen Pleitewellen. "Ein Fünftel aller Unternehmen sieht bereits jetzt das eigene Überleben durch Corona als gefährdet an", sagt Mittelstandspräsident Mario Ohoven. Bei einem erneuten "Wumms" ginge in diesen Betrieben dann "endgültig das Licht aus".
Obwohl auch in Deutschland die Infektionszahlen steigen, ist ein zweiter flächendeckender Lockdown nicht in Sicht. "Jetzt im Herbst geht es um eines: Eigenverantwortung, Eigenverantwortung, Eigenverantwortung", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn Anfang September. "Und ich denke, wenn wir das hinbekommen, dann brauchen wir auch nicht über einen Lockdown zu reden." Bei lokalen Ausbrüchen müsse dagegen konsequent eingegriffen werden.
Auch das deutsche Finanzministerium rechnet anscheinend nicht mit einem zweiten Lockdown. Im Entwurf für den Bundeshaushalt 2021 ist vorgesehen, für den Kampf gegen die Corona-Krise rund 96 Milliarden Euro neue Schulden aufzunehmen. Alle Planungen gehen allerdings davon aus, dass Deutschland in der Corona-Pandemie kein weiteres Mal in einen Lockdown gezwungen wird. Davon sei man bei den Haushaltsplanungen nicht ausgegangen, heißt es im Ministerium.
Großbritannien ist auf zweiten Lockdown vorbereitet
Etwas anders ist die Lage in Großbritannien. Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock sagte dem Sender BBC vor wenigen Tagen: "Wir wollen einen nationalen Lockdown vermeiden, aber wir sind darauf vorbereitet." Das Vereinigte Königreich ist mit fast 42.000 Toten das in Europa am stärksten vom Coronavirus betroffene Land.
Seit Tagen nimmt dort nicht nur die Zahl der Infektionen stark zu. Auch die Zahl der COVID-19-Patienten in den Kliniken steigt. Seit knapp einer Woche gelten deshalb in Großbritannien deutlich schärfere Kontaktbeschränkungen. Auch hier versucht man - wie überall in Europa - lokal gegen Infektionsherde vorzugehen. In Birmingham, Glasgow und anderen größeren Städten dürfen sich Mitglieder unterschiedlicher Haushalte nicht mehr in geschlossenen Räumen, teilweise auch nicht mehr im Freien treffen.
Wissenschaftler empfehlen zweiwöchigen Lockdown
Britische Top-Forscher von der "Scientific Advisory Group for Emergencies" haben der Regierung empfohlen, eine zweiwöchige landesweite Ausgangs- und Konktaktsperre in den Herbstferien im Oktober anzusetzen. "Da die Schulen für eine Woche geschlossen bleiben, wird eine zusätzliche Woche nur begrenzte Auswirkungen auf die Bildung haben", sagte ein Wissenschaftler der "Finanical Times".
Einen zweiten Lockdown wie in Israel will in Europa niemand. Neben den lokalen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung appellieren Politiker vor allem an die Disziplin der Bürger. "Die Nation steht vor einem Wendepunkt und wir haben die Wahl", sagte Gesundheitsminister Hancock dem Sender Sky News am Sonntag. "Die Wahl besteht darin, dass sich entweder alle an die Regeln halten ... oder wir müssen weitere Maßnahmen ergreifen."