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Europa, Merkel und das Parlament

Sabine Kinkartz20. Dezember 2012

2012 stand einmal mehr im Zeichen der Euro-Rettung. Auch für die Deutschen: An zwei Brennpunkten, in Brüssel und im Bundestag, war die Bundesregierung gefragt.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag 2012 Foto: REUTERS/Kai Pfaffenbach
CDU Parteitag 05.12.2012Bild: Reuters

"Wenn ich es mir leicht machte, dann könnte ich sagen: Das Schlimmste ist überstanden", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Hannover Anfang Dezember. Doch Leichtsinn ist nicht Merkels Sache, schon gar nicht in der Euro-Krise. "Ich sage ausdrücklich, wir sollten vorsichtig sein", fuhr sie daher fort. Die Schuldenkrise könne nur mit einem langen, anstrengenden Prozess überwunden werden.

An welchem Punkt Europa in diesem Prozess angekommen ist, das weiß aber auch die Kanzlerin nicht so genau. Fest steht nur, dass die Euro-Rettung für die Bundesregierung 2012 deutlich mühsamer geworden ist. Das liegt vor allem daran, dass das Bundesverfassungsgericht am 28. Februar entschieden hat, dass der Deutsche Bundestag bei allen Euro-Rettungspaketen das letzte Wort haben muss. Selbst dann, wenn es in Europa gerade wieder brennt und besondere Eile geboten ist.

Bundeskanzlerin Merkel und weitere Parlamentarier bei der Abstimmung im Bundestag. Foto: REUTERS/Thomas Peter
Die Kanzlerin bei der Abstimmung über das Hilfspaket für GriechenlandBild: Reuters

Wenn in Brüssel über europäische Hilfspakete verhandelt wird, sind selbst der Kanzlerin die Hände gebunden, solange der Bundestag kein grünes Licht gegeben hat. Einen Tag vor der Karlsruher Entscheidung hatte der Bundestag einem zweiten, 130 Milliarden Euro schweren Hilfspaket für Griechenland zugestimmt. Mehrheitlich zwar, aber nicht mit allen Stimmen der Regierungsparteien. Selbst in den Reihen von CDU/CSU und FDP sind die Zweifel inzwischen groß, ob Griechenland mit immer neuen Hilfspaketen überhaupt noch gerettet werden kann.

Merkel will Kurs halten

Die Bundeskanzlerin sieht an diesem Tag der Abstimmung im Parlament müde aus. Auch sie ist sich nicht mehr sicher, ob und wie Griechenland saniert werden kann. Wäre es vielleicht doch besser, wenn Athen sich aus dem Euro verabschieden würde? Was würde das für den Rest der Währungsunion bedeuten? Würde eine Kettenreaktion an den Finanzmärkten ausgelöst, würden andere Euro-Staaten, allen voran Spanien und Italien, wie Dominosteine ebenfalls fallen? Oder wäre der Euroraum besser dran, wenn er Ballast abwerfen würde?

Ihre Zweifel kann Angela Merkel nicht öffentlich äußern. Im Gegenteil. Sie muss Zuversicht verbreiten und die Hoffnung, dass die neuerliche Geldspritze den Griechen helfen wird. Mit den Banken ist ein Schuldenschnitt ausgehandelt, der Internationale Währungsfonds ist mit an Bord. Merkel will den einmal eingeschlagenen Weg weitergehen und auf keinen Fall vom strengen Sparkurs abweichen.

Doch es grummelt in Europa. 2012 wird immer deutlicher, dass der Rotstift allein nicht zum Erfolg führen wird. Die südeuropäischen Staaten rutschen weiter in die Rezession und das lässt die Schuldenberge nicht kleiner, sondern größer werden. Außerhalb Deutschlands mehren sich die Zweifel an der harten Haltung der Kanzlerin. Auch in Frankreich, wo Präsidentschaftswahlen anstehen. Der sozialistische Kandidat Francois Hollande ist ein Gegner der rigiden und alternativlosen Sparpolitik. Er fordert nicht nur finanzielle Unterstützung für mehr Wachstum in Europa, sondern auch eine Vergemeinschaftung der Schulden über europäische Staatsanleihen, die sogenannten Eurobonds.

Ein Demonstrant in Griechenland mit einem Plakat, auf dem die Bundeskanzlerin mit Hitler verglichen wird Foto: dpa
Vergleich mit Nazi-DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Hollande ist nicht Sarkozy

Für die Bundesregierung ist das eine kritische Entwicklung. Angela Merkel will den Euroraum auf den Stabilitätspfad zurückführen. Gerade erst haben sich alle EU-Mitglieder mit Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens darauf geeinigt, strenge Obergrenzen für ihre Staatsschulden festzulegen. In den meisten Staaten steht die Ratifizierung des Fiskalpakts für mehr Haushaltsdisziplin durch die Parlamente allerdings noch aus. Auch in Deutschland.

Am 26. Juni 2012 - Hollande hat die Präsidentschaftswahl in Frankreich gewonnen - bezieht Angela Merkel Position. Solange sie lebe, werde es mit ihr keine Eurobonds geben, sagt sie in Berlin in einer Fraktionssitzung der FDP. Der Zeitpunkt für diese Äußerung ist nicht ohne Hintergedanken gewählt. Zwei Tage später findet der nächste EU-Gipfel statt. Angela Merkel muss sich dort neu positionieren. Den Südeuropäern will sie entgegenkommen, indem sie nun doch für wachstumspolitische Maßnahmen eintritt. Im Gegenzug sollen die Rettungs-Milliarden für Krisenländer aber weiterhin an strenge Sparbedingungen geknüpft sein.

Gegenwind für Merkel

Doch der Plan der Kanzlerin geht nicht auf. Zwar wird dem Fiskalpakt ein europäischer Wachstumspakt zur Seite gestellt. Die Regierungschefs von Italien und Spanien haben sich aber mit dem neuen französischen Präsidenten verbündet und erreichen auf dem Gipfel, dass der Zugang zu den finanziellen Rettungsmaßnahmen erleichtert wird. Merkel muss sich dem Druck beugen.

Der Spanier Mariano Rajoy, der Franzose Francois Hollande, der Italiener Mario Monti und die Deutsche Angela Merkel sitzen an einem runden Tisch. Foto: REUTERS/Lionel Bonaventure
Krisensitzung in Rom, eine Woche vor dem EU-Gipfel Ende Juni: die Regierungschefs von Spanien, Frankreich, Italien und DeutschlandBild: Reuters

Die Eurokrise bereitet der Bundeskanzlerin auch innenpolitische Schwierigkeiten. Seit Monaten feilscht sie mit der Opposition um deren Zustimmung zum Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin und zum neuen, permanenten Rettungsschirm ESM. Beide Gesetze sollen im Bundestag im Paket verabschiedet werden, der deutschen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus müssen allerdings zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen. Die Bundesregierung braucht somit die Stimmen der Opposition.

Einigung vor der Sommerpause

Sozialdemokraten und Grüne stellen Bedingungen für ihre Zustimmung. Merkels Kurswechsel hin zu einem europäischen Wachstumspakt holt die Opposition endlich ins Boot. Am 30. Juni, dem letzten Sitzungstag des Parlaments vor der parlamentarischen Sommerpause, stimmen Bundestag und Bundesrat binnen weniger Stunden dem Fiskalpakt und dem ESM und somit beiden Instrumenten zur Krisenbewältigung zu.

In Kraft treten können die Gesetze allerdings nicht. Gegner des ESM haben bereits im Mai Verfassungsbeschwerde gegen den permanenten Rettungsschirm eingelegt. Sie warnen davor, dass Deutschland ein unkalkulierbares Haftungsrisiko eingehen würde. Das Bundesverfassungsgericht bittet den Bundespräsidenten, die Gesetze noch nicht zu unterschreiben, solange das Gericht nicht entschieden hat. Auf europäischer Ebene klingeln die Alarmglocken. Ohne deutsche Beteiligung könnte der Rettungsschirm nicht aufgespannt werden.

Ferienstimmung kann nicht aufkommen

Dabei spitzt sich die Lage in den südeuropäischen Staaten weiter zu. Am 19. Juli werden die deutschen Abgeordneten aus der parlamentarischen Sommerpause nach Berlin gerufen. Sie müssen über Hilfsgelder für Spanien abstimmen, die den angeschlagenen Banken des Landes zugute kommen sollen. Das Programm sieht bis zu 100 Milliarden Euro vor, auch wenn Spanien zunächst weit weniger in Anspruch nehmen will.

In Griechenland wird derweil erkennbar, dass die Hellenen für die ihnen auferlegten Reformvorhaben deutlich mehr Zeit brauchen werden. Die finanzielle Lage ist zudem mehr als angespannt, das Land steht wieder einmal kurz vor der Pleite. In Deutschland provoziert das eine Reihe von Unions- und FDP-Politiker, darunter auch Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler, laut über den Austritt Griechenlands aus dem Euro nachzudenken. Der sei inzwischen kein Schreckgespenst mehr und könne vom Rest der Währungsunion durchaus verkraftet werden.

Griechenland vor dem Aus?

Eine Drohung, die in Athen gehört wird. Der neue griechische Premier Antonis Samaras gibt der "Süddeutschen Zeitung" ein Interview, in dem er nicht nur mehr Reformanstrengungen verspricht, sondern auch beteuert, dass sein Land die Notkredite auf jeden Fall zurückzahlen werde. "Das garantiere ich persönlich", schwört Samaras. Er hoffe aber, dass Griechenland das EU-Defizit-Ziel von drei Prozent erst 2016 erfüllen müsse und damit zwei Jahre später als von den internationalen Geldgebern aus Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU vorgegeben.

Frankreich zeigt Verständnis für die Bitte, in Deutschland hingegen wird jeder Aufschub strikt abgelehnt. Es gibt Gesprächsbedarf. Am 23. August besucht Francois Hollande Angela Merkel in Berlin. Die politische Atmosphäre ist angespannt, auch wenn beide vordergründig versuchen, die Uneinigkeit zu überspielen. Der Präsident und die Kanzlerin haben in den kommenden zwei Tagen auch jeweils einen bilateralen Termin mit dem griechischen Premier.

Bundeskanzlerin Merkel und der griechische Regierungschef Samaras stehen im Kanzleramt an Rednerpulten
Große Versprechen: Griechenlands Regierungschef Samaras in BerlinBild: Reuters

Krisendiplomatie im Kanzleramt

Als Antonis Samaras am 24. August nach Berlin kommt und noch einmal offen seinen Reformwillen erklärt, zeigt sich Merkel erstaunlich wohlwollend und bekundet weitere Solidarität. "Wir wissen, dass große Opfer verlangt werden, gerade von vielen Bürgerinnen und Bürgern Griechenlands", bekundet die Kanzlerin ihr Mitgefühl. Die neue Tonlage hat einen Grund: Die Bundesregierung ist erschrocken darüber, wie sehr das Image Deutschlands und allem voran das der Bundeskanzlerin im Ausland gelitten hat. Bei Demonstrationen werden Plakate geschwenkt, auf denen Merkel mit Hitler oder einem herzlosen Maschinenmenschen verglichen wird.

Angesichts der finanziell angespannten Lage auch in Spanien und Italien entscheidet die Europäische Zentralbank (EZB) am 6. September, klammen Eurostaaten mit einer neuen Runde von Anleihekäufen unter die Arme zu greifen. Eine Obergrenze für das Anleihenkaufprogramm solle es nicht geben. Das Programm werde beendet, wenn die Ziele erreicht seien, kündigt EZB-Chef Mario Draghi an. Damit unterscheidet sich die Maßnahme deutlich von den ersten Anleihekäufen der EZB seit dem Frühjahr 2010.

EZB-Präsident Draghi mit Bundestagspräsident Lammert. Foto:Michael Sohn/AP/dapd
Im Oktober wirbt EZB-Chef Draghi im Bundestag für seine umstrittenen AnleiheankäufeBild: AP

Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der deutsche Vertreter im EZB-Rat, hat gegen die Entscheidung gestimmt. Sein Standpunkt spiegelt die deutschen Zweifel an dem Aufkaufprogramm wider. Sie reichen von der Befürchtung, damit sei nichts anderes als eine Staatsfinanzierung über die Notenpresse eingeläutet bis zu der Prognose, damit sei der Inflation das Tor geöffnet. Abgeordnete des Deutschen Bundestags machen sich zudem Gedanken über die fehlende parlamentarische Kontrolle der EZB.

Der ESM kann aufgespannt werden

Nur eine Woche später, am 12. September, kommt aus Karlsruhe grünes Licht für die deutsche Beteiligung am Rettungsschirm ESM. Das Bundesverfassungsgericht zieht aber einige rote Linien. So muss Deutschland beispielsweise verbindlich sicherstellen, dass sein Anteil am Euro-Rettungsschirm tatsächlich auf maximal 190 Milliarden Euro begrenzt bleibt. Der ESM-Vertrag sieht eigentlich eine Nachschusspflicht vor, falls Länder ausfallen. Das wäre der Fall, wenn sie selbst unter den ESM schlüpfen müssen. Außerdem stärkt das Bundesverfassungsgericht noch einmal die Rechte des Bundestags. Das Parlament muss jeder Änderung am Rettungsschirm zustimmen.

Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Sibylle Kessal-Wulf (v.l.), Monika Hermanns, Michael Gerhardt, Peter Huber, Gerichtspraesident Andreas Vosskuhle, Gertrude Luebbe-Wolff, Herbert Landau, und Peter Mueller, stehen im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bei der Urteilsverkuendung in der Sache "Beteiligungsrechte des Bundestages/EFSF" im Gerichtssaal. Foto: Ronald Wittek/dapd
Treffen Urteile mit weitreichenden Folgen: Die Verfassungsrichter in KarlsruheBild: dapd

In Griechenland steigt derweil die Schuldenlast immer weiter. Die EU-Kommission errechnet im Herbst, dass es - so sich nichts ändert - 2014 völlig untragbare 190 Prozent der Wirtschaftskraft des Landes sein werden. Ursprünglich hatten die Gläubiger als Ziel vorgegeben, dass die Verschuldung bis 2020 auf 120 Prozent sinken sollte. Dann hätte sich das Land auch wieder selbst am Markt finanzieren können.

Griechenland soll den Euro behalten

Davon ist Griechenland weiter entfernt denn je. Die Europäer haben sich dennoch entschieden, das Land nicht fallen zu lassen. Es soll unbedingt im Euroraum bleiben, darüber besteht nun politischer Konsens. Ein gewisser Fatalismus hat Einzug gehalten. Man könne vieles über Griechenland sagen, erklärt die Bundeskanzlerin Mitte Oktober auf dem deutschen Arbeitgebertag, aber es sei dort "ganz viel" in Gang gekommen. "Langsamer, als wir uns das manchmal vorstellen und vielleicht auch nicht so effizient, wie wir uns das manchmal vorstellen, aber es hat sich im gesamten Denken doch etwas verändert."

IWF-Chefin Christine Lagarde (R) mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Oktober 2012 in Tokio
Sie mögen sich, auch wenn sie in der Sache nicht immer einer Meinung sind: IWF-Chefin Lagarde und Bundesfinanzminister SchäubleBild: picture alliance/Kyodo

Dem Internationalen Währungsfonds reicht das nicht. IWF-Chefin Christine Lagarde fordert einen zweiten Schuldenschnitt, diesmal zulasten der Euro-Staaten. Sie sollen auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Die öffentlichen Geldgeber halten zwei Drittel der griechischen Schulden in Höhe von mehr als 300 Milliarden Euro. Die Euro-Länder sind von dem Vorschlag nicht erbaut. Die Deutschen lehnen einen Schuldenschnitt sogar kategorisch ab. Ein Jahr vor der Bundestagswahl wollen die Regierungsparteien ihren Wählern nicht erklären müssen, dass ein Teil der Hilfskredite verloren ist.

Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht

Stattdessen wird Ende November zum einen beschlossen, dass Griechenland zwei Jahre Aufschub bis 2016 zur Verringerung seines Defizits bekommt. Zum anderen wird ein Maßnahmenbündel beschlossen, das unter anderem eine Senkung von Zinsen für bereits vergebene Kredite aus dem ersten Hilfsprogramm sowie eine Verlängerung von Kreditlaufzeiten und eine Stundung von Zinszahlungen vorsieht. Außerdem kauft Griechenland einen Teil seiner stark im Wert gefallenen Staatsanleihen zurück und kann seine Schulden damit um mehr als 30 Milliarden Euro reduzieren.

Dass es damit nicht getan ist, darüber macht sich am Ende des Jahres 2012 wohl niemand Illusionen. Kurz vor Weihnachten geben die internationalen Geldgeber fast 50 Milliarden Euro Hilfsgelder für Griechenland frei, die bis Anfang 2013 nach Athen überwiesen werden sollen. Es werden nicht die letzten Milliarden sein.