EU-Afrikapolitik: Bitte nicht nach Europa
4. März 2020Josep Borrell hat nicht viel Zeit. Er steigt aus dem Auto aus, das Handy am Ohr. Die Lage in Idlib, Syrien, war am Vortag eskaliert, er muss Gespräche führen. Jetzt also noch der Rundgang durch eine Lederschuhfabrik in Addis Abeba. Ein paar Hände schütteln, ein Gruppenfoto mit einigen Angestellten, eine Kaffeezeremonie, am Ende eine große, rote Plastiktüte voller Einkäufe.
Borrell, der Außenbeauftragte der EU war in die äthiopische Hauptstadt gereist, um an einem Treffen der EU-Kommissare mit ihren Counterparts der Afrikanischen Union teilzunehmen. Auf der Tagesordnung stand die zukünftige Partnerschaft der beiden Kontinente. Einer der Kernpunkte: Wie umgehen mit Migration? Aus Sicht der EU: Wie kann die Politik dafür sorgen, dass sich so wenige Menschen wie möglich von Afrika aus auf den - oft lebensgefährlichen Weg - nach Europa machen?
Die ELICO-Lederschuhfabrik ist ein Versuch, auf diesem Weg Fortschritte zu erzielen. "Es gibt keine perfekte Politik", sagt Josep Borrell im DW-Interview. "Wir müssen den Menschen hier Arbeit geben. Je zufriedener sie hier sind, desto weniger wollen sie nach Europa."
Mehr als 100 Angestellte arbeiten in der Lederfabrik, darunter 80 Prozent Frauen. Gefördert wird der Betrieb über das SINCE-Projekt der EU, das mit einem Budget von 20 Millionen Euro "irreguläre Migration in Nord- und Zentral-Äthiopien eindämmen" soll.
Zurück aus Dubai
Friehiwot Mekonnen und Getachew Mamo zählen zur Zielgruppe des Projekts. Beide sind relativ jung, beide mögliche Auswanderer. Beide haben vor sechs Monaten in der Fabrik angefangen, stehen nebeneinander an Maschinen, die so laut rattern, dass eine Unterhaltung schwierig ist. Mekonnen legt ausgestanzte Lederstücke auf eine Maschine, die das Leder härtet, um es später für Schuhe zu verwenden.
Die 27-Jährige hatte mit ihrer kleinen Tochter zusammen ihr Glück in Dubai versucht, dort aber nur schlecht bezahlte Jobs gefunden. Seit drei Jahren ist sie zurück in ihrem Heimatland. Die Stelle in der Lederfabrik bekam sie auch deswegen, weil sie eine Rückkehrerin ist. "Ich will in meinem Land arbeiten, nicht mehr auswandern", sagt sie. Sie verdiene hier zwar nicht gut genug, hoffe aber sich durch den Job mehr Fähigkeiten aneignen zu können, um in der Zukunft mehr Geld zu bekommen.
Ihr Nachbar an der Maschine nebenan, der 31 Jahre alte Getachew Mamo, ordnet lange, schmale Lederbänder. Er ist froh, nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit hier in der Fabrik einen Job gefunden zu haben. Auch wenn er gerne in Addis Abeba lebt - sollte sich eine Chance bieten - könnte er sich vorstellen, woanders hinzugehen. Auch nach Europa.
530 Euro Lohn im Jahr
Laut der tschechischen NGO 'People in Need' (PIN), die das Projekt vor Ort umsetzt, verdienen die Angestellten der Lederschuhfabrik 1600 Äthiopische Birr im Monat. Das entspricht ungefähr 530 Euro im Jahr. Dazu kommen ein kostenloser Transport mit dem Bus, eine Krankenversicherung und vergünstigtes Essen in der Kantine.
Im Vergleich zu europäischen Standards sei der Lohn zwar gering, sagt der EU-Außenbeauftragte Borrell, "für äthiopische Standards aber würdig. Das ist ein Schritt nach vorne".
Tatsächlich betrug der Durchschnittslohn in Äthiopien 2018 nach Angaben der Weltbank 710 Euro im Jahr. Damit ist das gemessen an der Einwohnerzahl zweitgrößte Land Afrikas eines der ärmsten Länder der Welt, auch wenn die Wirtschaft in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist und mit dem als Reformer angetretenen Abiy Ahmed seit 2018 ein Mann als Ministerpräsident agiert, der vielen im Land Hoffnung verleiht.
Tigist Adane von 'People in Need' findet es gerade deswegen gut, dass die EU-Mittel dabei helfen, Menschen in Äthiopien vor Ort ausbilden zu lassen. "Wenn sie gute Leistung bringen, werden manche von ihnen die Möglichkeit haben, danach auch in anderen Firmen mit Lederprodukten zu arbeiten", sagt Adane. Sie führt den EU-Chefdiplomaten Borrell durch die Firma und erklärt die einzelnen Produktionsschritte.
Zwischen Addis Abeba und Brüssel
Die Lederschuhfabrik und das SINCE-Projekt sind Teil eines größeren Programms, dem 'EU Emergency Trust Fund for Africa' (EUTF), ein nach EU-Angaben 4,7 Milliarden schweres Paket, das die EU-Kommission als Reaktion auf die Migrationskrise 2015 startete.
Raphael Shilhav, ein Migrationsexperte der NGO Oxfam, steht mitten im Brüsseler EU-Viertel, rechts von ihm der Europäische Rat, links die EU-Kommission, weit weg von Äthiopiens Hauptstadt, aber nah dran am Thema. Natürlich finde er es gut, mit Entwicklungshilfe Jobs für die Menschen vor Ort zu schaffen. Aber die EU unterstütze immer weniger Projekte, die Menschen in Afrika nützten, sondern versuche, eigene Ziele umzusetzen, vor allem wolle man Migration nach Europa stoppen.
Projekte bewerte die EU nicht danach, ob sie der lokalen Bevölkerung helfen würden, sondern, inwiefern sie Menschen davon abhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen, so Shilhavs Kritik. "Das ist eine komplett andere Sache."
In einem Anfang des Jahres von Oxfam veröffentlichten Bericht bezeichnet Shilhav den 'EU Trust Fund' als Mittel, mit dem die EU Entwicklungshilfe daran knüpft, ob afrikanische Länder genug tun, um Migration nach Europa einzudämmen. Problematisch findet Shilhav auch, dass etwa die libysche Küstenwache und Grenzkontrolleure über den 'EU Trust Fund for Africa' finanziert werden und damit ebenfalls unter dem Label Entwicklungshilfe oder Bekämpfung von Fluchtursachen laufen.
Josep Borrell sieht darin kein Problem: "Wir leben nicht in einer perfekten Welt", sagt der EU-Außenbeauftragte. "Indem wir versuchen, Migration zu regulieren im Austausch für Entwicklungshilfe, unterstützen wir diese Länder dabei, nach vorne zu gehen."
Borrell ist längst weg, da erzählt Getachew Mamo an seiner Maschine mit den langen, schmalen Lederbändern, dass er später gerne seine eigenen Lederschuhkreationen entwerfen würde. Ein eigener Laden für Frauenschuhe, das wäre sein Traum. Alles, was er dafür braucht, will er hier in der Fabrik in Addis Abeba lernen.