Erst protestieren, dann beten
10. Juli 2013Die Massendemonstrationen sind vorbei. Doch zwei Wochen nach dem Ende des Confed-Cup steht in Brasilien bereits das nächste Großereignis an: der Weltjugendtag. Rund zwei Millionen Menschen, die Mehrheit von ihnen aus Lateinamerika, werden zu der katholischen Großveranstaltung vom 23. bis 28. Juli in Rio de Janeiro erwartet.
Das fromme Festival am Zuckerhut verspricht, ein hochpolitisches Ereignis zu werden. Denn viele Jugendliche, die noch vor kurzem gegen Korruption und teure WM-Stadien auf die Straße gingen, werden nun Papst Franziskus zujubeln, der am 22. Juli in Rio de Janeiro landet. Mehr noch: Sie erwarten den Segen des katholischen Kirchenoberhauptes für ihre politischen Reformwünsche.
Wunschliste für den Papst
Protestieren und beten: Für Biologiestudent Walmyr Junior ist das ganz normal. Während der Massendemos postete er auf seiner Facebook-Seite Aufrufe der Jugendpastoral, der katholischen Gemeindearbeit für Jugendliche, und der brasilianischen Studentenvereinigung. Zurzeit hilft er als Freiwilliger im Organisationsbüro des Weltjugendtages mit. Als Botschafter brasilianischer Jugendlicher wird er zudem mit Jugendlichen aus anderen Erdteilen am 25. Juli bei einem internationalen politischen Hearing dem Papst eine Liste mit Forderungen überreichen.
"Wir wollen zeigen, dass der christliche Glaube die Gesellschaft verändern kann", erklärt Walmyr Junior. "Er kann dafür sorgen, dass es weniger Gewalt gibt." Der 28-Jährige weiß, wovon er spricht. Denn in dem Armenviertel "Complexo da Maré", wo er wohnt, gehört der Krieg zwischen Drogenhändlern und Militärpolizei zum Alltag. Erst vor zwei Wochen starben in der Favela in der Nähe des internationalen Flughafens von Rio bei einer Schießerei neun Bewohner und ein Polizist.
Protest gegen willkürliche Polizeigewalt und Korruption - der politische Aufbruch in Brasilien, der im Parlament und bei der Regierung vorübergehend hektischen Reformeifer auslöste, genießt den Segen der katholischen Kirche. "Die Mehrheit der Jugendlichen, die auf die Straße gegangen sind, wollen ein neues, gerechteres und solidarischeres Land", erklärte der Erzbischof von Rio de Janeiro, Dom Orani Joao Tempesta, kürzlich im brasilianischen Fernsehsender TV Globo. "Das wünschen wir Bischöfe uns auch".
"Hört auf die Schreie der Straße!"
Der Erzbischof von Rio geht davon aus, dass die Massenproteste in Brasilien und der neue Papst aus Lateinamerika das Interesse am Weltjugendtag erhöhen. "Viele Pilger aus Europa fragen sich: Wie leben Jugendliche in Lateinamerika? Wie kommen sie mit der großen Armut in der Gesellschaft klar? Wie schaffen sie es, eine Ausbildung zu bekommen?", meint Dom Orani Tempesta. Er selbst hoffe auf eine große weltweite Verbrüderung.
Schon während der Massendemonstrationen beim Confed-Cup solidarisierten sich die brasilianischen Bischöfe mit den Jugendlichen. "Hört auf die Schreie der Straße", rieten sie der politischen Klasse ihres Landes in einer offiziellen Stellungnahme Ende Juni. Die Proteste zeigten, dass es unmöglich sei, in einem Land mit so großer sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu leben.
Beim Weltjugendtag wird sich die katholische Kirche deshalb von ihrer sozialen Seite zeigen. Papst Franziskus trifft in Rio sowohl mit jugendlichen Strafgefangenen als auch mit Favela-Bewohnern zusammen. Er besucht zudem ein Krankenhaus und eröffnet ein mit Hilfe von deutschen Spendengeldern finanziertes Behandlungszentrum für Drogenabhängige.
"Wir müssen zu den Leuten gehen"
Bischof Bernhard Bahlmann, der seit 1983 in Brasilien lebt, findet solche symbolträchtigen Aktionen wichtig. Seit 2009 sucht er in der Diözese Obidos im Amazonas nach neuen Formen von Verkündung und Gemeindearbeit. "Wir müssen sehen, dass wir zu den Jugendlichen gehen", ist er überzeugt. Die Zeiten, in denen Gläubige zur Kirche gingen, seien vorbei. "Wir können nicht immer sagen, ich bin jetzt hier, ich bin richtig, und alle müssen zu mir kommen", so Bahlmann. "Es ist umgekehrt, wir müssen zu den Leuten gehen, unabhängig davon, was sie machen und wer sie sind".
Bei Walmyr Junior rennt Bahlmann mit dieser Einstellung offene Türen ein. Der Biologiestudent, der schon beim Weltjugendtag 2011 in Madrid als Freiwilliger arbeitete, würde am liebsten nicht nur die brasilianische Gesellschaft reformieren, sondern die katholische Kirche gleich mit. "Das Zölibat ist kein Dogma, sondern eine Empfehlung, das kann sich auch mal ändern", findet Junior. Das gleiche gelte für Frauen in der Kirche. Da müsste sich auch etwas tun.
Wer reformiert die Kirche?
Von einer Revolution ist die katholische Kirche in Lateinamerika bis jetzt allerdings weit entfernt. Nicht theologischer Aufbruch, sondern gravierender Priestermangel bestimmen den Alltag. Zudem hat die katholische Sexualmoral vielfach zu einer Abkehr von Gläubigen geführt. Nach Angaben des brasilianischen Statistikamtes IBGE ging der Anteil der Katholiken an der brasilianischen Bevölkerung zwischen den Jahren 2000 und 2010 von 74 Prozent auf 64 Prozent zurück. Evangelikale Freikirchen und Pfingstgemeinden steigerten ihren Anteil im gleichen Zeitraum von 15 Prozent auf 22 Prozent.
Walmyr Junior erhofft sich vom Weltjugendtag eine Verjüngungskur. Der Student sieht die Sache ganz pragmatisch. "Die Kirche kann gar nicht rückwärtsgewandt sein, denn ich gehöre zur Kirche, und ich spreche für sie!", erklärt er selbstbewusst. Wenn es zu wenig Priester gebe, müssten in Zukunft die Laien in der Kirche mehr zu sagen haben, fordert er. Treiben die Jugendlichen in Brasilien nun nicht nur ihre eigene Regierung zu Reformen, sondern auch den Vatikan?