Und es geht doch!
28. Juni 2013Und es geht doch! Auf einmal holen brasilianische Abgeordnete alte Gesetzesvorlagen aus verstaubten Schubladen. Verhandlungen über politische Reformen, die sich seit 15 Jahren im Kongress dahinschleppen, werden wieder aufgenommen. Das Volk soll künftig über Plebiszite stärker an politischen Entscheidungen beteiligt und Korruption als ein Kapitalverbrechen eingestuft werden. Haben die Massendemonstrationen der vergangenen Woche dem Land einen Reformrausch beschert?
Auf den ersten Blick scheint dies der Fall zu sein: Nach der Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr in mehreren brasilianischen Großstädten stimmte Brasiliens Senat am Mittwoch unerwartet für ein bahnbrechendes Gesetzesvorhaben, das Korruption, Unterschlagung und Veruntreuung als Kapitalverbrechen einstuft. Dadurch erhöht sich das Mindeststrafmaß für Vergehen auf vier Jahre. Der Entwurf muss allerdings noch das Abgeordnetenhaus passieren.
Auch im brasilianischen Abgeordnetenhaus bewirkten die Massendemontrationen ein politisches Wunder: In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch schmetterten die Volksvertreter ein umstrittenes Gesetzesvorhaben ab, durch das staatsanwaltliche Ermittlungen künftig eingeschränkt worden wären. Das so genannte Gesetzesvorhaben "PEC 37" (Proposta de Emenda Constitucional) beabsichtigte unter anderem, die staatanwaltliche Ermittlungsbefugnis auf die unterschiedlichen Polizeiorgane zu übertragen. Kritiker betrachteten dies als Freibrief für Korruption und fürchteten eine Entmachtung von Justiz und Ermittlungsbehörden.
Vom Plenarsaal ins Gefängnis
Wie ernst der Kampf gegen die Korruption zuzeit ist, beweist auch das aufsehende Urteil des Obersten brasilianischen Gerichtshofs (STF = Supremo Tribunal Federal). Zum ersten Mal in der Geschichte ordneten seine Minister am Mittwoch einen sofortigen Haftbefehl gegen einen Abgeordneten an. Bisher genossen Abgeordneten und Senatoren das Privileg der strafrechtlichen Immunität während ihres Mandates.
Unter dem Druck der Straße votierten die brasilianischen Abgeordneten zudem noch für zwei weitere Projekte: Sie beschlossen, dass drei Viertel aller Gewinne, die mit der Förderung von teils tief im Atlantik liegenden Erdölvorräten erwirtschaftet werden, in das brasilianische Bildungssystem investiert werden sollen. Die restlichen 25 Prozent dieser sogenannten "Royalties" sollen in den chronisch unterfinanzierten Gesundheitsbereich fließen.
Außerdem einigten sich die Volksvertreter in einem symbolischen Akt darauf, Gelder für den Weltfußballverband, die FIFA, zu kürzen. Die Freigabe von umgerechnet 15 Millionen Euro für Dienstleistungen im Bereich Telekommunikation wurde kurzerhand gestoppt. Mit der geplanten provisorischen Maßnahme sollte das brasilianische Ministerium für Kommunikation ermächtigt werden, die Anforderungen der FIFA aus seinem Etat zu bestreiten. Wo das Geld nun herkommen soll, weiß keiner.
Brasilianischer Finanzdschungel
Genau das stört die bekannte Autorin und Wirtschaftskolumnistin Miriam Leitão: "Die Regierung muss erklären, woher die angekündigten 18 Milliarden Euro für Mobilität kommen sollen", fordert sie in der Tageszeitung "O Globo". Bis jetzt habe Brasília das Gegenteil praktiziert und die Investitionen reduziert. "Was nützt so ein Vorschlag, wenn die Zahlen zum öffentlichen Haushalt wild durcheinander gewirbelt werden?".
Bei näherer Betrachtung entpuppen sich deshalb einige Reformvorschläge der Regierung als Etikettenschwindel. So waren die von Staatschefin Dilma Rousseff angekündigten 18 Milliarden Euro für urbane Mobilität schon bei der Verabschiedung des "Paktes für Wachstumsbeschleunigung" 2010 geplant worden. Elf Milliarden Euro davon sollten in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs fließen, vier Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur mittlerer Städte und drei Milliarden Euro in die Transportkosten für die WM.
Doch von den umgerechnet drei Milliarden Euro für die WM-Verkehrsinfrastruktur wurden nach Angaben des brasilianischen Bundesrechnungshofes TCU (Tribunal de Contas da Uniao) erst 16 Prozent abgerufen. Zwölf der insgesamt 57 WM-Verkehrsprojekte liegen auf Eis.
Ärzte aus dem Ausland
Auch die Investitionen in den Bereichen Bildung und Gesundheit, die Dilma Rousseff nach ihrer Sitzung mit Gouverneuren und Bürgermeistern zu Beginn der Woche ankündigte, gehen auf bestehende Gesetzesvorhaben zurück. Bereits 2011 warb Gesundheitsminister Alexandre Padilha im brasilianischen Kongress für die Arbeitserlaubnis von Ärzten aus dem Ausland, um die medizinische Unterversorgung im Land zu beheben. Die Maßnahme stieß allerdings in der brasilianischen Ärzteschaft auf Kritik.
Der Vorschlag, eine Volksabstimmung anzuberaumen, um über grundlegende politische Reformen zu entscheiden, erwies sich hingegen als Volltreffer. Nach einem Bericht der Tageszeitung "O Globo" will Staatschefin Rousseff bereits am kommenden Dienstag einen entsprechenden Gesetzesentwurf im Kongress vorlegen. Bei dem Plebiszit sollen die Bürger über Reformen beim Wahlrecht und Projekte öffentlicher Investitionen abstimmen.
"Die Macht der Parteien muss zugunsten direkter Volksbefragungen zurückgehen", erklärte Joaquim Barbosa, Präsident des Obersten brasilianischen Gerichtshofes STF. Bis jetzt seien die großen Änderungen in Brasilien, wie die Ausrufung der Republik oder der Unabhängigkeit, immer nur von Eliten, angestoßen worden.
Der 69-jährige Barbosa wurde im April dieses Jahres von der amerikanischen Zeitschrift "Time" zu den weltweit 100 einflussreichsten Persönlichkeiten gekürt. Er führte den Vorsitz bei dem historischen Prozess gegen 38 brasilianische Abgeordnete, die im August 2012 wegen Stimmenkauf zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.
Der Vorsitzende des brasilianischen Anwaltsvereins, Marcus Vinicius Furtado, sprach sich ebenfalls für ein Referendum zu politischen Reformen aus und plädierte dafür, die Volksabstimmung in maximal 45 Tagen abzuhalten. "Es reicht, wenn wir das Wahlrecht und die Parteienfinanzierung ändern", sagte Furtado der Tageszeitung "O Globo". "Dann gibt es keine undurchsichtigen Firmenspenden mehr und wir definieren Regeln für saubere Wahlen."