Inflation befeuert Unmut und lähmt Regierung
25. Juni 2013In einer außerordentlichen Sitzung hat sich Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff am Montag (24.06.2013) mit den Gouverneuren der Bundesstaaten und den Bürgermeistern der regionalen Hauptstädte getroffen. Am Nachmittag trat sie mit einem Fünf-Punkte-Programm vor die Presse: Demnach soll ein Fiskalpakt Wirtschaft und Inflation stabilisieren. Gesundheits-, Bildungs- und Transportsystem sollen verbessert werden. Zudem soll eine Volksabstimmung die Einberufung einer Konstituente autorisieren, die eine Verfassungsänderung ausarbeiten soll, um das politische System zu reformieren. Den Ökonomen Samy Dana vom Forschungsinstitut FGV (Fundação Getúlio Vargas) überrascht dieser Vorschlag nur bedingt: "So hat sie die Chance auf schnelle Änderungen."
Brasiliens Wirtschaftsschwäche
Für alles andere fehlt nämlich das Geld. Die einst boomende Wirtschaft ist 2012 gerade einmal um 0,9 Prozent gewachsen. Für 2013 sieht es nicht viel besser aus. Um der Inflation Herr zu werden, hat die Zentralbank im April erstmals seit zwei Jahren wieder den Leitzins angehoben - von 7,25 auf 7,5 Prozent, nun steht er bei acht Prozent. "Das wurde auch Zeit", sagt der Kieler Wirtschaftsprofessor Federico Foders, "Doch die Maßnahme wird erst in fünf bis sechs Monaten greifen." Gleichzeitig könnten die nun teureren Kredite das Wirtschaftswachstum weiter bremsen. In Anbetracht der Defizite in Haushalt und Leistungsbilanz kommt der Lateinamerikaexperte zu dem Schluss: "Makroökonomisch ist das Land derzeit instabil." Die US-Ratingagentur Standard & Poor's scheint das ähnlich zu sehen: Sie änderte die langfristige Perspektive des Landes bereits Anfang Juni von "stabil" auf "negativ".
Inflation bremst Konsum
Die Inflation trägt auf wesentlich zur Unzufriedenheit der Menschen bei, die sich an den anhaltenden Protesten beteiligen. Darüber herrscht unter Beobachtern weitgehend Einigkeit. Die offizielle Teuerungsrate stößt an die politisch gesetzte Obergrenze von 6,5 Prozent.
Teilbereiche sind aber noch stärker betroffen: Die Preise von Dienstleistungen stiegen in den vergangenen zwölf Monaten um acht Prozent, die von Lebensmitteln gar um 14 Prozent. "Deshalb leidet vor allem der bedürftigste Teil der Bevölkerung unter dem Kaufkraftverlust", sagt der brasilianische Ökonom Dana. Nun müssten viele Menschen Rückschritte im Lebensstandard hinnehmen, die sich gerade an den Aufstieg gewöhnt hatten.
"Die Konsumschwäche wurde schon im Januar deutlich: Die Menschen begannen, in den Supermärkten weniger Produkte in den Einkaufswagen zu legen", berichtet der Volkswirt Celso Grisi vom Institut für Betriebswirtschaft FIA (Fundação Instituto de Administração). Ein rasches Ende der Inflation scheint nicht in Sicht, meint der Wirtschaftsprofessor Antônio Carlos Alves dos Santo von der PUC-Universität São Paulo (PUC-SP). Denn viele Preise sind in Brasilien an die Inflationsrate gekoppelt: "Das überträgt die Teuerung des letzten Jahres in die Gegenwart."
Inlandsnachfrage teuer erkauft
Schon in den 1990er-Jahren begannen viele Geschäfte ihre Preise direkt in Ratenzahlungen auszuweisen, den niedrigeren Barpreis - wenn überhaupt - klein darunter. Zentralbank und Regierung befeuerten diese Praxis zeitweise mit einer Politik des (verhältnismäßig) billigen Geldes und der einfachen Kredite. Das kurbelte den Inlandskonsum an und trug essenziell zum Boom der letzten Jahre bei.
"2008 war die Konsum-orientierte Politik wichtig, um mit durch Stimulierung des Binnenmarkts die globale Krise auszugleichen", meint Dana. Doch die Fortführung, meint der FGV-Ökonom, habe ein "fragwürdiges" Wachstum gefördert. Viele Familien ließen sich zu einer hohen Verschuldung verleiten: Nach Erhebungen des Nationalen Wirtschaftsverbandes CNC (Confederação Nacional do Comércio) hatten im Mai 2013 64,3 Prozent aller Familien Kredite abzubezahlen. Tendenz steigend.
"Die Regierung machte den Armen vor, sie könnten in großer Menge am Konsum teilhaben", kritisiert auch der FIA-Ökonom Grisi. "Die Erwartungen stiegen in unrealistische Höhen. Nun entsteht großer Frust bei den Menschen, weil ihnen klar wird, dass sie viel ärmer waren, als sie lange Zeit dachten."
Kein Geld in der Kasse
Begleitet werden Kaufkraftverfall und Verschuldung der Bürger von einer schwächelnden Wirtschaft. Das engt den Handlungsspielraum der öffentlichen Hand ein. "Die Situation der Bundesstaaten ist prekär, nun sinken auch noch die Einnahmen, zum Beispiel aus der Mehrwertsteuer", beklagt der Vize-Gouverneur von Rio de Janeiro Luiz Fernando Pezão auf der Internetseite der Tageszeitung O Globo, "Wir benötigen dringend Geld, um auf die Forderungen der Öffentlichkeit einzugehen."
Doch eine der Forderungen der Demonstranten lautet: Steuersenkungen. Die brasilianische Staatsquote liegt mit 38 Prozent des Bruttoinlandsproduktes nur etwa fünf Prozentpunkte unter dem OECD-Schnitt. "Doch eine adäquate Gegenleistung in Form von Bildung, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur gibt es nicht", urteilt Samy Dana von der FGV. Und mit den sinkenden Steuereinnahmen bleibt kaum Geld übrig, das man in diese Bereiche investieren könnte, meint sein Kollege Alves dos Santos von der PUC-SP: "Das meiste Geld fließt ja schon in die Sozialausgaben und den öffentlichen Dienst."