Erosion der Freiheitsrechte durch Corona
4. Mai 2021An Beispielen für eingeschränkte Freiheitsrechte mangelt es in dem Bericht "Atlas der Zivilgesellschaft" nicht: Überfüllte Gefängnisse auf den Philippinen, verhaftete Journalisten in Simbabwe, bedrohte Menschenrechtsverteidiger in Mexiko. Zum vierten Mal haben die Organisationen "Brot für die Welt" und "Civicus" den umfangreichen Bericht über die Situation von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Akteuren in zahlreichen Ländern herausgegeben.
"2019 war ein Jahr der Proteste", sagt Dagmar Pruin, Präsidentin von "Brot für die Welt", bei einer Pressekonferenz zur Veröffentlichung des Berichts. Weltweit seien besonders viele Menschen auf die Straße gegangen. "Und diese Mobilisierung hat sich auch 2020 fortgesetzt, etwa in den USA oder in Belarus." Dazu seien Proteste im Zuge der Corona-Pandemie gekommen, beispielsweise von Menschen, die wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land mehr Zugang zu Pandemie-Nothilfen und weniger Korruption forderten. "Doch als Antwort darauf bekämpften in vielen Ländern die Regierungen nicht die Ursachen für den Protest, sondern den Protest selbst."
Für das Jahr 2020 ergibt sich daraus ein düsteres Bild. Demnach leben 88 Prozent der Weltbevölkerung in Gesellschaften, die der Bericht in beschränkt, unterdrückt oder geschlossen einteilt. Neben diesen drei (Un-)Freiheitskategorien gibt es im "Atlas der Zivilgesellschaft" noch die Einteilung in beeinträchtigte und offene Gesellschaften. Von allen 196 Staaten der Welt gelten nach dem Bericht nur 42 als offen. Sogar längst nicht jedes EU-Land fällt darunter. Damit leben weltweit nur 263 Millionen Mensch frei von Repressionen und genießen gesellschaftliche Freiheiten.Deutschland zählt als offen, weil hier beispielsweise zivilgesellschaftliche Organisationen frei agieren können, im öffentlichen Raum demonstriert werden darf und Informationen leicht zugänglich sind. Die Einschränkungen der Freiheit, die es auch in Deutschland wegen der Pandemie gibt, sieht der Bericht als verhältnismäßig, kritisiert aber, dass zu Beginn der Pandemie die Corona-Verordnung ein generelles Versammlungsverbot vorsah, das aber dann das Bundesverfassungsgericht kippte.
Corona-Pandemie legt Schwachstellen offen
Die Corona-Pandemie wirkte wie ein Brandbeschleuniger und eine Lupe zugleich. "Was wir feststellen können, ist, dass die Pandemie grundsätzlich die Schwachstellen offengelegt hat, die wir in einigen Systemen und Regimen vorfinden", sagt Silke Pfeiffer, Leiterin des Referats Menschenrechte und Frieden bei "Brot für die Welt". "Und es hat vielerorts eine Tendenz gegeben, diesen Schwachstellen, die die Pandemie offenbart hat, mit einem Übermaß an Autorität zu begegnen und so Bürgerinnen und Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen."
Dazu zählten beispielsweise 100.000 Festnahmen von Menschen auf den Philippinen, die sich vermeintlich nicht an Corona-Regeln gehalten hatten, oder auch 17.000 Menschen, die in El Salvador in Quarantänezentren festgesetzt wurden, darunter auch eine Menschenrechtsverteidigerin, die erst nach drei Wochen in dem Zentrum auf das Coronavirus getestet wurde. Ein großes Problem sei auch die wachsende Polizeigewalt. Lockdown-Maßnahmen, so der "Atlas der Zivilgesellschaft", seien in einigen Ländern mit harter Hand durchgesetzt worden.
Eine Umfrage unter knapp 400 Journalisten und Journalistinnen ergab, dass Menschen in 59 Ländern Polizeigewalt erlebten, die in Verbindung mit dem Coronavirus stand. In Kolumbien veröffentlichten fast 50 Nichtregierungsorganisationen eine gemeinsame Erklärung und beklagten die Gewalt durch eine Polizei, die sich zunehmendend militarisiert habe.
Leiden unter den Maßnahmen
In vielen Ländern wurden die Maßnahmen gegen das Coronavirus außerdem genutzt, um Demokratien auszuhöhlen und Menschenrechtler und Journalisten unter Druck zu setzen. In Mexiko steht die Menschenrechtsverteidigerin Clemencia Salas Salazar eigentlich unter Polizeischutz. Normalerweise bewachen sie zwei Polizeieinheiten. Im März 2020 wurde ihr Schutz auf einen einzigen Polizisten reduziert, mit der Begründung, die restlichen würden zur Pandemie-Bekämpfung gebraucht. Unter anderem die Nichtregierungsorganisation "Amnesty International" wies daraufhin auf die Gefahr hin, unter der Salazar fortan stehe. Im Juni bekam Salazar wieder mehr Schutz.
In mehreren Ländern setzten die Pandemie-Bestimmungen Journalisten und Journalistinnen unter Druck. Auf den Philippinen wurde die Sendegenehmigung des bis dato größten Nachrichtensenders ABS-CBN nicht verlängert. Der Sender hatte immer wieder kritisch über die Regierungspolitik des Präsidenten Rodrigo Duterte berichtet. "Damit fehlte während der Pandemie eine wichtige Quelle, die die Öffentlichkeit sachlich und kritisch informiert", heißt es im "Atlas der Zivilgesellschaft".
In anderen Ländern wurden unter dem Deckmantel der Pandemie-Bekämpfung Gesetze verabschiedet, die demokratische Prozesse aushöhlten oder stoppten. In Kambodscha, einem Land, das 2020 offiziell keinen einzigen Corona-Toten zu beklagen hatte, verabschiedete das Parlament "ein vage formuliertes Gesetz, das die Regierung befugt, den Notstand auszurufen".
Wenig Hoffnungsvolles
Viel Anlass zur Hoffnung auf Besserung gibt der "Atlas der Zivilgesellschaft" nicht. "Im Jahr 2020 hat sich die Lage außergewöhnlich verschärft", resümiert "Brot-für-die-Welt"-Präsidentin Dagmar Pruin. Allerdings gebe es auch eine positivere Entwicklung: Viele zivilgesellschaftliche Organisationen hätten die Lücken, die ihre Regierungen aufgerissen haben, schließen können und seien kreativ mit der Corona-Krise umgegangen.
Ein Beispiel dafür kommt aus Brasilien: Laut dem "Atlas der Zivilgesellschaft" kaufte die Organisation "Assessoria e Serviços a Projetos em Agricultura Alternativa" (AS-PTA) Nahrungsmittel von Kleinbauern auf, die ihre Produkte aufgrund geschlossener Märkte und Transportwege nicht mehr verkaufen konnten. Dann verteilte die Organisation die Lebensmittel an jene, die ohne festen Arbeitsvertrag oder Arbeitnehmerrechte jeden Tag Geld verdienen müssten. Während der Quarantäne hätten sie nicht gewusst, wie sie ihre Familien versorgen sollten.