Das Experiment 9-Euro-Ticket ist zu Ende
30. August 2022Das Fahrkartensystem in Deutschland ist so kompliziert, dass es sogar ein Lied darüber gibt. In "Out of Bempflingen" singt die schwäbische a-cappella-Gruppe Chor der Mönche von ihren Schwierigkeiten, das "Niemandsland" zwischen zwei regionalen Verkehrsverbünden zu durchqueren.
"Der Schalter der ist leer, ein Automat muss her, von Metzingen nach Bempflingen, eine Fahrtkarte, das geht schwer," heißt es im Liedtext. Die Rede ist von zwei deutschen Städte, die nur fünf Kilometer voneinander entfernt liegen. Da sie sich nicht entscheiden können, welche Fahrkarte sie kaufen sollen, werfen sie das Handtuch und laufen lieber. "Es ist eine wahre Geschichte", sagt Michael Niedhammer, einer der Bandmitglieder, gegenüber DW.
In diesem Sommer war das Fahrkartensystem ganz einfach. Anstatt sich durch die mehr als 60 Tarif- und Verkehrsnetze Deutschlands zu navigieren, konnten die Menschen von Juni bis August für neun Euro pro Monat mit einem einzigen Ticket landesweit in allen Bussen und Bahnen des Nah- und Regionalverkehrs reisen. Damit ist jetzt erstmal Schluss, denn am 31. August endet das dreimonatige Experiment.
Mission erfüllt?
Die Maßnahme, die das deutsche Magazin Der Spiegel als "das größte Experiment bezeichnete, das Deutschland jemals in seinem öffentlichen Nahverkehrssystem unternommen hat", war ziemlich kurzfristig eingeführt worden, als Teil des Entlastungspakets der Bundesregierung, um die Verbraucher angesichts der hohen Inflation zu unterstützen. Selbst die Verkehrsunternehmen wurden von dieser Maßnahme überrumpelt und konnten sich wenig vorbereiten. Nun am Ende des Experiments stellt sich die Frage: War das bundesweite Ticket ein Erfolg?
"Das hängt vom Ziel ab," sagt Jonathan Laser, Senior Consultant bei civity Management Consultants, einer auf den öffentlichen Sektor spezialisierten Unternehmensberatung aus Berin, gegenüber der DW. Es müsse erst einmal geschaut werden, was denn das Ziel des Projekts war. "Wenn es darum ging, die Bürger finanziell zu entlasten, würde ich sagen, ja, es war ein Erfolg. Wenn das Ziel die Vermarktung des öffentlichen Verkehrs war, würde ich auch sagen: ja. Wenn es aber um Nachhaltigkeit ging, dann war es kein Erfolg."
Nach Angaben des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) haben über 52 Millionen Menschen das Ticket gekauft - das entspricht mehr als 60 Prozent der Bevölkerung des Landes. Weitere zehn Millionen Menschen erhielten die Ermäßigung automatisch über bereits bestehende Abonnements für Nahverkehrsnetze. Nach Angaben des ADAC, des größten deutschen Automobilclubs, kosten solche Abonnements in deutschen Großstädten rund 80 Euro pro Monat. Während der drei Sommermonate sparten diese Reisenden automatisch über 200 Euro.
Das Angebot hat auch viele neue Fahrgäste angelockt. Laut einer VDV-Umfrage gaben 15 Prozent der Nutzer des 9-Euro-Tickets an, dass sie ohne den Sonderpreis nicht so viele Fahrten unternommen hätten, wie sie es getan haben.
"Millionen von Menschen in Altersgrundsicherung, in Hartz IV oder mit Niedrigverdiensten ist dies normalerweise verwehrt, " schreibt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, in einem Meinungsbeitrag. "Und es wird ihnen nach Auslaufen dieses Ticketangebotes auch wieder verwehrt sein."
Auch die Inflationsrate in Deutschland ging während des Experiments leicht zurück, was das Statistische Bundesamt unter anderem auf den niedrigen Preis für Bahnfahrten zurückführt.
Massive Nachfrage offenbart Schwachstellen
Ob wirklich langfristig neue Kunden vom Bahnfahren überzeugt werden konnten, ist noch nicht klar. In diesem Sommer waren täglich in den sozialen Medien Horrorgeschichten von überfüllten Zügen, defekten Klimaanlagen und stundenlangen Verspätungen zu lesen.
Das liegt auch daran, dass in Deutschland stark in den Straßenverkehr und weniger in den Bus- und Bahnverkehr investiert wird, wie Bahnbefürworter seit Jahren beklagen. So litten Bahnreisende auch schon vor dem 9-Euro-Ticket unter unzähligen Verspätungen und überfüllten Zügen.
Zwar hatte die Bundesregierung den 16 deutschen Bundesländern zusätzliche 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um die durch das Projekt bedingten Einbußen beim Fahrkartenverkauf auszugleichen. Weitere Mittel für zusätzliche Kapazitäten, Personal und Instandhaltung, um die gestiegene Nachfrage zu befriedigen, gab es aber nicht. Die chronische Unterfinanzierung zeigte sich in diesem Sommer besonders in Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, die auf bestimmten Bahnstrecken bis zu dreimal so viele Fahrgäste wie üblich transportierten.
"Das 9-Euro-Ticket hat wie mit einem Brennglas die Probleme im Regionalverkehr aufgezeigt", sagt auch Ralf Damde, Gesamtbetriebsratschef von DB Regio, einer regionalen Tochter der Deutschen Bahn. "Es gibt nicht genügend Personal und insbesondere zu wenig Fahrzeuge, um den Anstieg der Fahrgastzahlen auch in Zukunft aufzufangen, " sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Debatte um Folgeticket
Wie aber soll es nun weitergehen? Kritiker des vergünstigten Tickets sagen, das Geld wäre besser in den Ausbau der Infrastruktur investiert. "Wir brauchen vielmehr jeden zusätzlichen Euro für Ausbau und Verbesserung des Angebots, damit der ÖPNV zu einer alltagstauglichen Mobilitätsalternative werden kann," sagte Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages.
Viele plädieren aber trotz der unbequemen Reisebedingungen dafür, den günstigen Tarif zu verlängern, zumal das Land seine Klimaschutzziele in letzter Zeit nicht erreicht hat. Manche möchten auch beides: "Die Lösung besteht offensichtlich nicht darin, den öffentlichen Verkehr wieder unattraktiver zu machen, sondern die erforderliche Infrastruktur zu reparieren/zu bauen", heißt es in einer Diskussion auf der sozialen Plattform Reddit.
In der Politik wird noch darüber diskutiert, ob es ein Folgeticket geben soll und wie viel das kosten könnte. Laser von Civity sagte, der Preis sei nur ein Teil der Geschichte. Das Projekt habe auch gezeigt, wie wertvoll ein rationalisiertes Fahrkartensystem sei. "Wir können über den Preis diskutieren, aber wir sollten auch darüber reden, wie kompliziert es ist, ein Ticket zu kaufen", sagte er. "Müssen wir so viele verschiedene Tarifsysteme haben? Oder können wir es auch einfacher gestalten?"
Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.