"Erdogans Einfluss in Deutschland ist riesig"
9. Juni 2016DW: Was haben Sie als Unterstützerin der Armenien-Resolution erlebt?
Sevim Dagdelen: Ich habe viele Todesdrohungen und Beleidigungen erhalten. Interessanterweise erkannte der eine Teil den Völkermord an den Armenien an und der andere bestritt ihn. Mir wurde geschrieben, ich solle "Urlaub in Buchenwald" machen, und dass Kopfgeld auf mich ausgesetzt worden sei. Die Hassmails waren eine Mischung aus Antisemitismus, rassistischem Hass gegen Armenier, sexuellen Gewaltphantasien und nationalistischem Größenwahn.
Was denken Sie über Organisationen wie die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD)? Was ist der Zweck solcher Gruppen in Deutschland und was kann Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan von ihnen erwarten?
Die Strategie der UETD in Deutschland ist es, Erdogans inhumane Politik zu vertreten. So war zum Beispiel einer der Verwalter des türkischen Magazins Zaman, der nach der Stürmung der Redaktionsräume eingesetzt wurde, zuvor Generalsekretär der UETD. Erdogan benutzt diese Organisation als Teil der nationalistischen und islamistischen Außenpolitik der Türkei in Europa. Angesichts der Haltung der UETD zu Erdogans faschistischen Äußerungen - so wie die Anmerkung, das Blut türkischstämmiger Bundestagsabgeordneter auf deren Herkunft zu testen - stellt sich die Frage, ob diese Organisation noch auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes agiert.
Und was denken Sie über die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, kurz DITIB? Wie hilft dieser Dachverband der Moscheegemeinden dabei, Unterstützung für Erdogan zu mobilisieren?
Die Kontrolle der deutschen Moscheevereine durch die türkische Regierung führt dazu, dass diese zunehmend als Sprachrohr für Erdogans despotische Politik missbraucht werden. So ist es nicht verwunderlich, dass diese Vereine bei den Demonstrationen von Genozid-Leugnern auffielen, die es vor der Bundestagsabstimmung gab. Das hat nichts mit religiöser Freiheit zu tun. Offensichtlich werden diese Vereine von Erdogan instrumentalisiert, um eine sehr gefährliche Art von Islamismus zu etablieren, der grundlegenden Rechten widerspricht.
Gibt es noch andere Gruppen oder Organisationen in Deutschland, die dem türkischen Präsidenten nahe stehen?
Die radikal-islamische Organisation Milli Görüs, die eine türkische Variante der Muslimbruderschaft ist, steht Erdogan nahe. Es gibt deutsch-türkische Wirtschaftskreise, die Kampagnen gegen Bundestagsabgeordnete orchestrieren. Und im Sinne einer nationalistischen Mobilisierung sind auch die faschistischen Grauen Wölfe zu nennen.
Wir haben es mit einer bis dato ungekannten Mobilisierung von nationalistischen, faschistischen und islamistischen Kreisen zu tun, die Erdogans gewalttätige Politik in Deutschland etablieren wollen. Die deutsche Regierung nimmt diese Vorfälle geräuschlos hin. Ich befürchte, dass Deutschland dafür bitter bezahlen wird.
Wie beeinträchtigt Erdogans Einfluss in Deutschland die türkischstämmigen Menschen hierzulande?
Da viele ihre Informationen aus türkischen Medien erhalten, die mittlerweile alle von Erdogan kontrolliert werden, ist der Einfluss riesig. Wenn die von Erdogan gelenkten Moscheevereine politischen Einfluss ausüben wollen, haben es kritische Medien schwer, gehört zu werden. Das bedeutet, dass Millionen Menschen hier in Deutschland Erdogans Propaganda ausgesetzt sind. Die deutsche Regierung schenkt dem keine Beachtung.
Wie profitiert denn Erdogan von seinen Unterstützern in Deutschland und Europa?
Zuallererst benötigt Erdogan die Wählerstimmen aus Deutschland. Außerdem will er seine politische Bedeutung ausbauen. Um das zu erreichen, versucht er Menschen "türkischer Herkunft" in Deutschland zu instrumentalisieren, damit sie Kritiker auf Distanz halten und diese wirksam bedrohen, so wie er das jetzt tut.
All das ist aber nur wegen des skandalösen Verhaltens von Bundeskanzlerin Angela Merkel möglich. Um ihren schäbigen EU-Türkei-Deal zu retten, schaut sie weg und macht ein Zugeständnis nach dem anderen.
Glauben Sie denn, dass dieser Trick Erdogan helfen wird, mehr Unterstützung für seine Partei AKP sowie die Politik gegen die Kurden zu gewinnen?
Erdogan verhandelte ja mit der PKK und entschied sich dann, den Friedensprozess zu stoppen - weil es ihm bei seinen Plänen für eine präsidentielle Diktatur half. Die Kurden wollten an seinem autoritären Projekt nicht mitarbeiten. Nun versucht er, die pro-kurdische Partei HDP zu kriminalisieren und deren Mandate zu bekommen, um an eine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung zu gelangen. Auf kurze Sicht hilft ihm dieses Vorgehen auch dabei, die Unterstützung der Nationalisten und Faschisten zu bekommen.
Ich befürchte, Erdogan will einen Bürgerkrieg provozieren, um seine Macht zu sichern. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Saat auch in Deutschland aufgeht.
Seit 2005 sitzt die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen im Deutschen Bundestag. In der Fraktion ist sie für den Bereich Internationale Beziehungen zuständig. Dagdelen wurde 1975 in Duisburg geboren und studierte Jura in Marburg und Köln. Seit Anfang der 1990er Jahre ist sie Gewerkschaftsmitglied und war vor ihrer politischen Karriere Journalistin.
Die Fragen stellte Manasi Gopalakrishnan.