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Die Türkei und ihre pöbelnden Trolle

Hilal Köylü / wo8. Juni 2016

Die türkischen Morddrohungen gegen deutsche Parlamentarier in den sozialen Netzwerken sind ein Grund zur Sorge. Experten meinen, dass der pöbelnde Mob im Internet Teil der politischen Kultur im Land ist.

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Symbolbild Tastatur Internet
Bild: picture-alliance/dpa/Hildenbrand

Welche Bedeutung Profile in sozialen Netzwerken mittlerweile in der Türkei haben, zeigt sich gerade sehr deutlich. Sie können dazu benutzt werden, um mit Hasskommentaren die Nachrichtenagenda des Landes zu bestimmen oder konkrete Ziele anzugreifen. Zuletzt waren vor allem deutsche Parlamentarier mit türkischen Wurzeln ins Visier der Angreifer geraten. Der Grund: Sie hatten im Bundestag für die umstrittene Armenien-Resolution zum Völkermord vor 100 Jahren gestimmt.

Den Ermittlern ist das Problem bekannt. Ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft sagte der Deutschen Welle, dass Profile bei Twitter, Facebook und Instagram gezielt dafür benutzt würden, um wie zuletzt Cem Özdemir ins Visier zu nehmen. Der Grünen-Politiker hatte sich als Initiator besonders um die Armenien-Resolution bemüht und sah sich daraufhin massiven Anfeindungen ausgesetzt. "Wir haben Schritte gegen die Verbreitung solcher Nachrichten eingeleitet. Andere Abgeordnete erhalten ebenfalls solche Nachrichten", sagte der Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft. Vor allem Twitterprofile, die Morddrohungen verbreiteten, würden gesperrt.

Das türkische Außenministerium will seine Informationen mit den deutschen Behörden und den Verantwortlichen des Kurznachrichtendienstes austauschen. Die gelöschten Accounts, auf denen die Parlamentarier unter anderem "Landesverräter" genannt wurden, verschickten Nachrichten wie diese: "Du wirst dafür bezahlen. Du bist kein Abgeordneter, sondern ein Terrorist. Wir werden es nicht zulassen, dass die Türkei gespalten wird. Wir werden es nicht zulassen, dass du lebst."

Türkei Ankara Protest vor der deutschen Botschaft
Vor der deutschen Botschaft in Ankara wurde protesiertBild: Reuters/U. Bektas

Rückschritt für die Zivilisation

"Diese Ereignisse bestätigen, dass es in der Türkei ein System gibt, dem eine Mob-Mentalität zugrunde liegt", sagt der Wissenschaftler Tanıl Bora der Deutschen Welle. Er hat ein Buch über die "Mob-Mentalität" in der Türkei geschrieben: "Dieses Phänomen zerstört unsere Gesellschaft und die Politik - und ist ein großer Schaden für unsere Zivilisation. Eine Gesellschaft, in der so etwas alltäglich wird, in der kollektives Schamgefühl fehlt, verliert ihren Charakter", sagt Bora.

Rasit Kaya sieht das ähnlich. "Diese Kultur des Pöbelns erschafft Mittäter - zusammen mit den Medien", sagt der Professor für Politik und Kommunikation an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara. Dieses Phänomen sei überall präsent. Regierungen, Politiker und Parteien könnten in den sozialen Netzwerken fertiggemacht werden. Selbst ein banaler Vorfall erzeuge eine große Erregung. Und genau so etwas unterfüttere die "Pöbel-Kultur".

Der Professor ist der Meinung, dass die Medien bei dieser Normalisierung von Gewalt und "Pöbel-Kultur" eine unmittelbare Rolle spielen - und Vorfälle als alltäglich darstellen, die die Gesellschaft eigentlich ablehnen sollte.

Deutschland Bundestag Armenienresolution
Vor dem Deutschen Bundestag freuten sich Armenier über die ResolutionBild: Reuters/H. Hanschke

"Pöbel-Kultur" als Normalität

Der Psychotherapeut Murat Paker von der Istanbuler Bilgil-Universität argumentiert, dass die "Pöbel-Kultur, die sich in den sozialen Netzwerken offenbart, Teil der vorherrschenden politischen Kultur ist". Paker glaubt, dass dies eng mit dem Erstarken des türkischen Nationalismus und fehlendem kritischen Denken zusammenhängt. "Die offizielle Weltanschauung wurde über Generationen hinweg auf dogmatische Weise gelehrt", sagt er. Wenn eine Petition, ein Artikel, eine Resolution oder eine Bewegung entdeckt werde, die dieser widerspreche, werde sie angegriffen. "Soziale Medien können das einfachste und direkteste Mittel dafür sein", so der Psychotherapeut.

Der Streit mit Deutschland über die Anerkennung des Genozids sei ein Beispiel für all dies. Soziale Medien, die eigentlich zum Kommunizieren da sind, würden genutzt, um gegen Andersdenkende vorzugehen. "Es wird versucht, eine unsoziale Struktur zu schaffen. Die Nachrichten in den sozialen Medien zeigen, dass krasse Umgangsformen zur Normalität geworden sind. Jeder kann unbewusst sagen: 'Ich werde dich töten'", sagt Paker. Diese Entwicklung könnte aus seiner Sicht entweder zu einer Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts führen - oder nach einem Tiefpunkt den Weg frei machen für einen neuen demokratischen Ausweg.