Erdogan in Athen: Erster Schritt in Richtung Aussöhnung
8. Dezember 2023Positive Überraschungen sind derzeit selten in der internationalen Politik. Umso mehr, wenn sie von jemandem kommen wie Recep Tayyip Erdogan. Noch vor knapp anderthalb Jahren drohte der türkische Präsident Griechenland mit einer Invasion - "wir werden an einem Abend plötzlich kommen", verkündete er damals. Doch dann (am 07.12.2023) erschien er in Athen nicht als Aggressor, sondern als friedlicher Nachbar, der von einer "neuen Ära" in den türkisch- griechischen Beziehungen schwärmt.
Es war Erdogans erster Besuch in Athen seit sechs Jahren - wobei zwischendurch drei Jahre unter dem Vorzeichen gefährlicher Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei standen. Aber diesmal kam Erdogan offenbar mit dem festen Entschluss nach Athen, sowohl dem griechischen als auch dem internationalen Publikum sein freundliches Gesicht zu zeigen.
Als er nach Ankara zurückfuhr, hatte er im Gepäck eine unterzeichnete gemeinsame Erklärung über Freundschaft und Zusammenarbeit. Sie enthält die Zusage des griechischen Premierministers Kyriakos Mitsotakis, den türkischen Staatsbürgern, die die Inseln der östlichen Ägäis besuchen möchten, ein Jahresvisum zu erteilen. Außerdem zwei Versprechen: Die griechische Regierung will sich in der Europäische Union dafür einsetzen, dass türkische Geschäftsleute und Wissenschaftler bei Reisen Visa-Erleichterungen erhalten und dass sich das bilaterale griechisch-türkische Handelsvolumen verdoppelt.
Probleme "unter Brüdern"
Der türkische Präsident kam mit der Hälfte seines Kabinetts zum 5. Obersten Kooperationsrat zusammen, einem 2010 gegründeten bilateralen Forum für griechisch-türkische Zusammenarbeit, das zwischenzeitlich jedoch jahrelang nicht getagt hatte. Erdogan lächelte alle seine Gesprächspartner an - wie es bei ihm unüblich ist - und sprach an der Seite von Kyriakos Mitsotakis über die "Probleme, die Brüder möglicherweise untereinander haben", die man mit etwas gutem Willen auf beiden Seiten lösen könne. Erdogan gab sich Mühe, nichts zu sagen, das seinen Gastgeber hätte beunruhigen können.
Der Tenor des Treffens: Natürlich sind die Differenzen zwischen Ankara und Athen um die Hoheitsrechte und Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer groß, aber darüber will man irgendwann in der Zukunft reden. Im Moment ist es beiden Ländern wichtig, in den bilateralen Beziehungen ein ruhiges Klima zu bewahren. Für Erdogan geht es darum zu zeigen, dass er fähig ist, mit mindestens einem Nachbarn gute Beziehungen zu pflegen. Mitsotakis möchte seinerseits die Spannungen in der Ägäis soweit entschärfen, dass die griechische Öffentlichkeit keine Angst mehr vor dem schwierigen Nachbarn hat.
Ruhige Gewässer
Der Wunsch, jede Möglichkeit eines Eklats zu vermeiden, war so groß, dass Erdogan und Mitsotakis lediglich Statements für die Presse abgaben. Immerhin liegen die Ansichten der beiden Staats- und Regierungschefs zur Zypernfrage, aber auch zu den Kriegen in der Ukraine und insbesondere in Gaza weit auseinander. Also standen die Journalisten im Megaro Maximou, dem Sitz des griechischen Premierministers, als lebende Kulisse da und hörten nur zu. Fragen waren nicht zugelassen.
Kyriakos Mitsotakis bezeichnete den Tag als "besonders". Er sagte, es sei seine "historische Verpflichtung", beide Länder zusammenzubringen. Er sei mit dem türkischen Präsidenten übereingekommen, beide Länder auf einen "ruhigen Weg" zu führen. "Wenn wir unsere Differenzen nicht überbrücken können, sollten die Differenzen zumindest keine Krisen verursachen", sagte er. Erdogan sprach, etwas lyrisch, von "ruhigen Gewässern" und von der Ägäis, die "wir in ein Meer des Friedens und der Zusammenarbeit verwandeln wollen".
Lang ersehnte Freundschaftserklärung
Der Höhepunkt des Besuchs war die Unterzeichnung der Freundschaftserklärung zwischen den beiden Ländern, von der man bis vor kurzem nicht einmal träumen konnte. Der Vater des heutigen Premierministers, Konstantinos Mitsotakis, hatte im Januar 1992 versucht, den damaligen türkischen Präsidenten Süleyman Demirel von einem Freundschaftspakt zu überzeugen. Ohne Erfolg.
Mehr als drei Jahrzehnte Jahre später und nach vielen Spannungen wurde es am 7.12.2023 möglich. Mit dieser Freundschaftserklärung verpflichten sich Griechenland und die Türkei dazu, an kontinuierlichen konstruktiven Konsultationen teilzunehmen und jede Erklärung oder Handlung zu unterlassen, welche die Wahrung von Frieden und Stabilität gefährden könnte. Dabei handelt es sich zwar nur um eine Absichtserklärung, die völkerrechtlich nicht bindend ist. Sie deutet aber an, dass das ruhige Klima in den bilateralen Beziehungen anhalten wird. Ebenso vielversprechend war Erdogans Aufforderung an Mitsotakis, Ankara im nächsten Frühjahr zu besuchen. Beide Seiten versuchen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen - solange der türkische Präsident, der vorerst als guter Nachbar auftreten möchte, seine Meinung nicht ändert.
Let's do business
Mitsotakis und Erdogan bekräftigten das Ziel, das Volumen des bilateralen Handels von gegenwärtig 5,5 auf zehn Milliarden Dollar in fünf Jahren zu verdoppeln. Die beiden Länder wollen wirtschaftlich enger zusammenarbeiten. Im Rahmen des Obersten Kooperationsrates wurden insgesamt 15 Abkommen und gemeinsame Erklärungen in den Bereichen Handel, Investitionen, Exporte, Kultur, Sport, Tourismus und Wissenschaft sowie Zoll unterzeichnet.
Nicht gesprochen wurde über die schwierigen Fragen der Seegrenzen. "Wenn die Bedingungen reif sind, können wir mit der Bestimmung des Festlandsockels und der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) beginnen", sagte der griechische Premierminister. Im Moment, so das Fazit, sind die Bedingungen nicht reif.
Im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage war die Absicht der Zusammenarbeit auf beiden Seiten deutlich zu erkennen. Athen und Ankara wollen künftig eng zusammenarbeiten, um die irreguläre Zuwanderung aus der Türkei nach Griechenland zu begrenzen. Dazu sollen Verbindungsoffiziere der Küstenwachen beider Länder auf die griechische Insel Lesbos und ins türkische Izmir entsandt werden - sie sollen die Maßnahmen gegen irreguläre Migration koordinieren. Bis vor kurzem sprach der griechische Premierminister noch von "einem hybriden Krieg" seitens der Türkei - jetzt erscheint er von der Kooperationswille Erdogans in der Flüchtlingsfrage überzeugt.