Epidemiologe: Todesfälle durch Fluglärm sind abschätzbar
21. Dezember 2017Deutsche Welle: Nachdem ein Artikel der Deutschen Welle am vergangenen Freitag in die Unstatistik des Monats gewählt worden war, gab uns der dafür verantwortliche Statistikprofessor Walter Krämer ein Interview. Darin griff er die Methodik der Epidemiologie an. Er bestreitet, dass es möglich ist, eine Anzahl von Todesfällen auf eine bestimmte Umweltursache kausal zurückzuführen. Unter anderem kritisierte er auch Sie und Ihre Studien zum Fluglärm. Was erwidern Sie?
Eberhard Greiser: Herr Krämer hat zwar Argumente, aber keine Ahnung von der Epidemiologie. Das Ziel der Epidemiologie ist ja der Versuch, Erkrankungen in ihrer Häufigkeit in der Bevölkerung zu beschreiben und Ursachen aufzudecken. Dabei gibt es natürlich verschiedene Methoden.
Welche Methoden sind das?
Sie können zum Beispiel eine Fall-Kontroll-Studie machen. Dabei wählen Sie eine Erkrankung aus, müssen aus einer Region möglichst alle Erkrankungsfälle erheben und die Patienten befragen auf alle nur denkbaren Risikofaktoren, die zur Erkrankung geführt haben könnten. Wenn Sie beispielsweise die Risiken für einen Herzinfarkt feststellen wollen, müssen sie nach dem Rauchen, nach Ernährungsgewohnheiten, nach körperlicher Aktivität, nach dem Cholesterinspiegel und so weiter fragen.
Dann brauchen Sie eine Vergleichsgruppe von Menschen, die nicht am Herzinfarkt erkrankt sind, denen sie haargenau die gleichen Fragen stellen. Und wenn zum Beispiel das Rauchen einen relativ großen Beitrag zum Herzinfarktrisiko darstellt, dann müssten Sie unter den Patienten mit Herzinfarkt mehr Raucher finden als in der Vergleichsgruppe.
Eine solche Studie ist wegen der persönlichen Interviews sehr aufwendig und teuer und kann leicht mehrere Millionen Euro kosten. Und wenn die Teilnahmerate zu gering ist, ist das, was am Ende herauskommt, nicht mehr repräsentativ.
Aber es geht auch anders?
Ja, man kann auch die Daten der Gesetzlichen Krankenkassen nutzen – natürlich unter Beachtung des Datenschutzes. Sie bekommen dann von den Krankenkassen Daten zum Beispiel Arzneiverordnungen von niedergelassenen Ärzten und Krankenhaus-Entlassungs-Diagnosen über sämtliche Versicherten aus der Studienregion. Der Vorteil ist, dass die Daten der Krankenkassen nicht durch individuelle Faktoren verzerrt sind und sich gleichzeitig Ursachen für eine Vielzahl von Erkrankungen analysieren lassen.
Und wie sind Sie bei Ihren beiden Studien zum Fluglärm rund um den Köln-Bonner Flughafen vorgegangen?
Wenn es bei den Ursachen um solche Umweltfaktoren geht, braucht man natürlich Daten von hoher Qualität zu Fluglärm, Schienenlärm und Straßenlärm, die man punktgenau für die Adresse jedes Versicherten zuordnen können muss.
Das Auswertungsschema ist im Prinzip das gleiche wie bei einer Studie mit Befragung der Studienteilnehmer. Man untersucht: Wie ist die Fluglärmbelastung bei den Patienten mit Herzinfarkt? Und wie ist es bei der Vergleichsgruppe ohne Herzinfarkt? Oder man schaut: Wie hoch ist die Herzinfarktrate bei Menschen, die gar nicht von Umgebungslärm betroffen sind? Wir fanden bei den Studien um den Köln-Bonner Flughafen durch nächtlichen Fluglärm erhöhte Erkrankungsrisiken für sämtliche Herz- und Kreislaufkrankheiten, für Demenz, chronisches Nierenversagen und für psychische Krankheiten.
Wenn meine Vergleichsgruppe aber in einer Region ohne jeglichen Umgebungslärm lebt – dann ist doch die Wahrscheinlichkeit groß, dass die gar nicht in einer Metropolenregion leben. Dann spielen womöglich auch viele andere Krankheitsfaktoren keine Rolle?
Das ist ein Irrtum. Die letzte Studie, die wir im Auftrag des Umweltbundesamts durchgeführt haben, befasst sich mit Umgebungslärm in Bremen. Bremen hat sowohl Flug- als auch Schienen- und Straßenverkehrslärm. Man könnte also annehmen, dass es gar keine Bewohner gibt, die überhaupt nicht von Lärm betroffen sind. Das stimmt aber nicht. Wir haben es genau ausgerechnet: Ungefähr 21 Prozent aller Bremer haben überhaupt keinen nennenswerten Verkehrslärm - weder am Tage noch in der Nacht.
Und damit sind sie eine Vergleichsgruppe, die statistisch funktioniert?
Man muss natürlich auch berücksichtigen, dass die Struktur der von Lärm betroffenen oder nicht betroffenen Menschen unterschiedlich sein könnte. Daher haben wir uns auch die Sozialhilfehäufigkeit in den Stadtteilen angeschaut, denn in Regionen mit einem hohen Prozentsatz von Sozialhilfe-Empfängern sind auch Krankheitsrisiken stärker ausgeprägt – in der Epidemiologie ist das ein alter Hut.
Wir haben in Bremen auch geschaut: Wie lange haben die Leute dort gelebt? Wie ist das durchschnittliche Einkommen in den Ortsteilen? Wie ist die Pkw-Dichte? Mit solchen Faktoren kann man die Sozialstruktur der einzelnen Ortsteile abbilden und Rückschlüsse auf eine mögliche Beeinflussung des Erkrankungsrisikos ziehen.
Der Hauptkritikpunkt von Herrn Krämer ist aber die Angabe einer Anzahl von Todesfällen. In den Medien wirken natürlich solche Zahlen als Überschrift sehr stark. Er hält die Berechnung der verlorenen Lebensjahre für seriös, bezeichnet die Angabe von zusätzlichen Todesfällen durch Umweltfaktoren jedoch als Scharlatanerie. Wie berechnen sich denn verlorene Lebensjahre?
Als erstes muss man abschätzen, welcher Prozentsatz aller Herzinfarkte auf den Fluglärm oder einen anderen Umgebungsfaktor zurückzuführen sind – mit einem Standardverfahren, das seit Jahrzehnten in der Epidemiologie angewendet wird. Da wir natürlich nicht haargenau sagen können, wie viele aller Infarkte auf den Fluglärm entfallen, gibt es ein statistisches Verfahren, bei dem man die Schwankungsbreite angibt – den Vertrauensbereich. Der gibt im Grunde an, wie viele Prozent aller Fälle unter oder über dem eigentlichen Schätzwert liegen.
Und das zweite, das man macht: Wenn man einen neuen Infarkt feststellt, muss man wissen, wie lange ein Infarktpatient mit einem bestimmten Lebensalter – Mann oder Frau – im Durchschnitt diesen Infarkt überlebt. Diese Daten kann man aus einem regionalen Herzinfarkt-Register entnehmen oder aus internationalen Publikationen. Und dann können Sie etwa sagen: "Von denjenigen, die an einem Infarkt erkrankt sind, sind innerhalb von zehn Jahren so und so viele verstorben."
Dieses Verfahren der zuschreibbaren Risiken ist in der Epidemiologie ein Standard-Verfahren, das seit Jahrzehnten angewendet wird und nur jemand, der von Epidemiologie nichts weiß, kann sagen: "Das ist unseriös".
Herr Krämer hat ja vorgeschlagen, man solle nicht die Anzahl von Todesfällen angeben, sondern die verlorenen Lebensjahre. Was halten Sie davon?
Wenn man die verlorenen Lebensjahre berechnen will, muss man zuvor wissen: Wie lange lebt man in Deutschland noch, wenn man bereits ein gewisses Lebensalter erreicht hat? Wie viele Leute verstarben eigentlich? Und dann kann man mit einer Sterbetafel des statistischen Bundesamtes abschätzen, wie viel höher bei Patienten mit Herzinfarkt im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung die Wahrscheinlichkeit zu sterben ist.
Was spricht dagegen, es so zu machen?
Man kann beides machen. Aber zu behaupten, es sei nicht seriös, die Anzahl von Todesfällen anzugeben und man solle stattdessen die verlorenen Lebensjahre angeben – das ist kompletter Unsinn.
Das Interview führte Fabian Schmidt.
Professor Eberhard Greiser lehrt und forscht am SOCIUM - dem Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Der Mediziner befasst sich schwerpunktmäßig mit Gesundheit, Pflege und Alterssicherung.