Kritik an Dublin IV
6. November 2017Eine Flüchtlingssituation wie im Sommer 2015 werde sich nicht wiederholen, versprach Angela Merkel zuletzt im Bundestagswahlkampf den Wählern. In der Tat: Das könnte passieren. Weil nämlich die Europäische Union die für alle Mitgliedsstaaten gültigen Asylgesetze ändern will. Darunter vor allem auch ihr Kernstück, die Dublin-Verordnung. Diese regelt, wer für Schutzsuchende und Asylanträge zuständig ist.
Damals, als sie die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge nach Deutschland weiterreisen ließ, nutzte die Bundeskanzlerin einen asylrechtlichen Ermessensspielraum. Laut der sogenannten Dublin-III-Verordnung kann ein Land nämlich in einer "humanitären Notsituation" die Zuständigkeit für eigentlich "fremde" Asylverfahren en bloc übernehmen.
Aber das war eine Ausnahme. Die eigentliche Regel besagt, dass das Land für einen Asylbewerber zuständig ist, in dem dieser EU-Boden zum ersten Mal betreten hat. Richtig funktioniert hat das allerdings nicht. So konnten viele Flüchtlinge in das Land ihrer Wahl weiterreisen, dort Asyl beantragen und leben. Man nennt das "Sekundär-Migration". Viele Flüchtlinge der Jahre 2015 und 2016 landeten in Deutschland, Österreich und Schweden. Auch wenn sie eigentlich in Lettland oder Portugal untergebracht sein sollten. Bisherige "Relocation"-Versuche brachten nicht den erhofften Erfolg.
"Bewegungsfreiheit für Asylbewerber wird eingeschränkt"
Mit Ermessensspielräumen und Dublin-Lücken soll mit der Verabschiedung von Dublin-IV Schluss sein. Ein EU-Staat, das muss nicht das "Eintrittsland" sein, soll fest für Asylbewerber zuständig bleiben, erläuterte Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Asylrecht in München bei einem Pressegespräch des Mediendienstes Integration in Berlin. Für den einzelnen Asylbewerber habe das gehörige Auswirkungen. In jedem anderen Land drohten dann Sanktionen bei Sozialleistungen oder bei Bildungsmöglichkeiten, so Hruschka. Die "Bewegungsfreiheit für Asylbewerber" wäre abgeschafft. Sie wären in dem "falschen Staat" nur noch Geduldete.
Ob das allerdings auch für Deutschland gelte, in dem jeder Mensch laut Grundgesetz Anspruch auf ein Existenzminimum hat, müsse wohl noch gerichtlich entschieden werden, fügte Hruschka hinzu.
Neuer Anlauf für Verteilschlüssel
Anders als das bisherige System, dass die Verantwortung an die EU-Grenzstaaten weggeschoben hat, soll es nun nach Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl berechnete Aufnahme-Quoten für Flüchtlinge geben. "Mein Ziel ist es, ein wirklich neues Asylsystem zu schaffen, das auf Solidarität beruht", sagte Mitte Oktober die zuständige schwedische EU-Abgeordnete, Cecilia Wikström. Alle Länder sollten die Verantwortung für die Asylbewerber teilen. Dabei müsste es klare Regeln und Anreize geben - sowohl für die Asylbewerber als auch die Mitgliedstaaten.
Kommen zum Beispiel in Griechenland so viele neue Flüchtlinge an, dass die Quote um 150 Prozent überschritten wird, müssen die anderen EU-Staaten helfen. Dann wird nämlich ein Umverteilungsmodus aktiviert. Die Flüchtlinge werden nach Belgien oder Lettland überstellt - und müssen dort auch bleiben.
Allerdings soll es Ausnahmen geben. Flüchtlinge sollen eine Präferenz - also ein "Lieblingsland" - anmelden können, weil sie zum Beispiel in einem EU-Staat studiert haben oder dort Familienangehörige wohnen.
Ursprünglich hatte die EU einen echten Verteilschlüssel geplant. Nun soll dieser also nur greifen, wenn die Quote um 150 Prozent überschritten wird.
Mehr "Dublin"-Abschiebungen
Auch eine andere Lücke des gegenwärtigen Systems soll geschlossen werden. Für die Rücküberführung eines Asylbewerbers in sein Erst-Einreiseland galt bislang eine Sechsmonatsfrist.
Ein aktuelles Beispiel: Der Iraner Majid Shiri hatte vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) geklagt, weil ihm eine Abschiebung nach Bulgarien drohte, wo er in der EU ankam. Doch er lebt nun in Österreich. Bulgarien hatte die Frist für eine Rückübernahme abgelehnt. Der EuGH gab Shiri Recht, der nun in Österreich bleiben kann.
Auch aus dem Bundesinnenministerium war zuletzt zu hören, dass viele Überstellungen an den Dublin-Fristen scheiterten. Die Situation könnte sich mit Dublin-IV ändern - nun droht für die Betroffenen noch nach Jahren eine "Dublin-Abschiebung".
Nationale Spielräume
Die Situation für syrische Flüchtlinge sei in Bulgarien viel schlechter als in Deutschland, sagte die Berliner Rechtsanwältin und Asyl-Expertin Berenice Böhlo. Eine Perspektive auf Familiennachzug bestünde dort quasi nicht - auch wegen der Schwächen der dortigen Verwaltung. Hier sehe sie vordergründigen Handlungsbedarf auf EU-Ebene, so Böhlo. Die "Aufnahmerichtlinie" im Asylgesetz, die genau das regelt und die Lebensbedingungen vor Ort standardisieren soll, müsse strenger gestaltet werden.
Doch das sei mit Dublin-IV gerade nicht geplant. Nationale Spielräume sollen weiterhin bestehen bleiben, kritisiert Böhlo. Dabei sei es doch wichtig, die Lebensbedingungen anzugleichen.
Brüssel streitet noch
Ob und wann Dublin-IV kommt, ist unklar. Bereits im Frühjahr 2016 hatte die EU-Kommission den Entwurf vorgelegt. Seither wird gestritten. In der nächsten Woche werde wohl das EU-Parlament Stellung beziehen, hieß es. Der EU-Rat habe bis Ende des Jahres einen Vorschlag versprochen. Alle drei - Kommission, Parlament und Rat - müssen im Trialog einen Kompromiss finden.
Dass es in Brüssel eine Einigung "im Paket" über alle Teile des Gesetzes gibt, bezweifelten die Fachleute in Berlin. Allerdings könnten andere, unstrittige Teile der Asylgesetze auch einzeln beschlossen werden.
Warnung vor den Folgen
Dabei seien die Schwächen nicht zu übersehen: An der tendenziellen Überbelastung der EU-Peripherie würde sich zu wenig ändern, war unisono die Meinung.
Kritikwürdig seien zudem die Pläne für ein vorgeschaltetes "Zulässigkeitsverfahren". Flüchtlinge sollen an den EU-Außengrenzen abgewehrt werden, wenn sie aus einem "sicheren Drittstaat" oder Anrainerstaat kommen, erläuterte Hruschka. Vorbild sei das EU-Türkei-Abkommen.
Doch könnten die formal nicht zugelassenen Flüchtlinge überhaupt individuell nach ihren Fluchtgründen befragt und juristisch betreut werden, fragte die Anwältin Böhlo? Was passiert mit so gestrandeten Flüchtlingen, die nicht von ihren Herkunftsländern zurückgenommen werden? Bleibt dann nur noch der Gang in die Illegalität von "Refugees in orbit", wie NGOs befürchten?
Dublin-IV sei eine echte Kehrtwende in der Asylpolitik, so Hruschka. Zukünftig würden Flüchtlinge in der EU kein "Recht mehr auf ein neues Leben" bekommen, sondern nur noch so lange bleiben dürfen, wie der Konflikt in ihrem Heimatland andauert. Und auch für den deutschen Gesetzgeber würde sich viel ändern: Da die meisten neuen Asylgesetze bindende Verordnungen und nicht mehr nur Richtlinien seien, könne Deutschland dann allein sein Asylrecht nicht einfach schnell wieder ändern.