Drohnen über Russland - was riskiert Kiew?
1. Juni 2023Die Spirale dreht sich weiter. Wie schon in den letzten Tagen hat Russland auch in der Nacht zum Donnerstag massiv Kiew beschossen - diesmal mit Raketen. Berichten zufolge wurden zwei Frauen und ein Kind getötet. Und aus der russischen Region Belgorod, die an die Ukraine grenzt, wird gemeldet, dass es erneut Beschuss gibt und womöglich ein weiterer Überfall des "Russischen Freiwilligenkorps" bevorsteht, das vom Territorium der Ukraine aus operiert. Russischen Medien zufolge wurde zudem in der Region Kaluga eine Drohne abgeschossen. Einen Tag zuvor hatte ein Drohnenangriff auf Moskau und seine Umgebung weltweit für Schlagzeilen gesorgt .
Seit fast einem Jahr gibt es derartige Drohnenangriffe, vor allem auf Einrichtungen der Militär- und Energieinfrastruktur, und das nicht nur in den von Russland annektierten Gebieten der Ukraine einschließlich der Krim, sondern auch in der Russischen Föderation selbst. Eines der ersten Ziele dort war im Juni 2022 eine Raffinerie in der Region Rostow. Zu Angriffen tiefer im Landesinneren kam es seltener. So wurde im Dezember der strategische Flugplatz Engels zweimal angegriffen.
Was steckt hinter den Drohnenangriffen auf Moskau?
Die Ukraine übernimmt in der Regel keine Verantwortung für solche Angriffe. Gleichzeitig greift die russische Seite das gesamte Gebiet der Ukraine um ein Vielfaches öfter an und setzt dabei Drohnen und Raketen verschiedener Art ein - der Schaden und die Zahl der Opfer stehen in keinem Verhältnis. Doch im vergangenen Monat nahmen die Drohnenangriffe und der Beschuss nicht direkt zur Front gehöriger Landstriche auf beiden Seiten zu. Was steckt dahinter?
Expertenmeinungen gehen diesbezüglich auseinander. Der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott spricht von einem Zusammenhang zwischen dem Drohnenangriff auf Moskau, dem Beschuss russischer Grenzgebiete und dem dortigen Einsatz von "Partisanen" - so bezeichnet er die in der Ukraine stationierten Kämpfer der paramilitärischen Verbände "Legion Freiheit Russlands" und "Russisches Freiwilligenkorps", die angeblich aus russischen Staatsbürgern bestehen.
Psychologische und militärische Wirkung
"Man will offensichtlich von ukrainischer Seite den Schrecken des Krieges auch nach Russland bringen. Man will den Leuten dort deutlich machen, dass der Staat nicht imstande ist, sie zu schützen, weder in den Grenzregionen noch in Moskau", sagte Mangott der DW. Ihm zufolge unterläuft dies die Versuche des Kremls, "in der russischen Gesellschaft den Eindruck zu erwecken, als gäbe es gar keinen Krieg, als wäre alles normal".
Der Berliner Militärexperte Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations hingegen meint, man müsse zwischen den Drohnenangriffen und den Ereignissen in Belgorod trennen. Die Drohnenangriffe auf Moskau seien "Instrumente psychologischer Kriegsführung, um die russische Nomenklatura auch mal frühmorgens mit Flakgedonner aus dem Bett zu holen", so Gressel gegenüber der DW. "Die Belgorod-Geschichte und die Angriffe im Grenzraum hingegen stehen im Zusammenhang mit der Gegenoffensive." Gressel zufolge will Kiew Russland zwingen, seine Grenze zur Ukraine stärker militärisch zu sichern, wofür Moskau Truppen aus der Ukraine abziehen müsse. Ob dies die Erfolgschancen der ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive verbessern wird, werde sich erst in einigen Wochen zeigen, glaubt der Experte.
Wie der Westen auf den Drohnenangriff auf Moskau reagiert
Der Westen reagiert mit Zurückhaltung auf die jüngsten Ereignisse. Ein deutscher Regierungssprecher sagte am Mittwoch auf Anfrage der DW, dass das Völkerrecht der Ukraine den Angriff auf russisches Territorium zur Selbstverteidigung erlaube, fügte aber hinzu, dass Berlin dabei gegen den Einsatz deutscher an Kiew gelieferter Waffen sei. Ähnlich klang die Reaktion aus den USA, dem wichtigsten Waffenlieferanten der Ukraine. Der Sprecher des Weißen Hauses, John Kirby, sagte, bei den Angriffen auf Moskau seien keine amerikanischen Waffen eingesetzt worden. Gleichzeitig betonte er, dass die USA "Angriffe innerhalb Russlands nicht unterstützen".
Zuvor hatten Vertreter des "Russischen Freiwilligenkorps" bei ihrem Überfall auf das Territorium der Russischen Föderation jedoch zumindest amerikanische Panzerfahrzeuge eingesetzt. Gustav Gressel hofft, dass so etwas nicht noch einmal passiert, "denn das könnte die Eskalations-Warner in Washington auf die Palme bringen. Gerade das Weiße Haus ist übervorsichtig, da sollte Kiew behutsamer sein", so Gressel. Doch generell ist er davon überzeugt, dass es "das gute Recht der Ukraine ist, Ziele in Russland anzugreifen". Ihm zufolge "hat niemand Putin gebeten, diesen Krieg zu beginnen". Jetzt müsse er mit den Konsequenzen leben.
F-16-Kampfjets als Abschreckung?
Vor dem Hintergrund der Ausweitung der Angriffe auf russisches Territorium meint Oleg Ignatov, Experte der International Crisis Group, dass die Ukraine versuche, "den Preis des Krieges für Russland zu erhöhen". Ignatov stellt fest, dass die USA "großen Einfluss auf die Ukraine haben, aber nicht auf jedem Gebiet". Der Experte geht davon aus, dass Washington Kiew davon überzeugen kann, keine amerikanischen Waffen wie etwa die HIMARS-Raketensysteme für Angriffe auf russisches Territorium einzusetzen, aber auch nicht mehr.
Kiews Wunsch, mehr Waffen aus dem Westen zu erhalten, soll daher vor allem auch abschreckend wirken. Beim jüngsten G7-Gipfel in Japan sagte US-Präsident Joe Biden, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe versprochen, F-16-Kampfflugzeuge, die Kiew schon seit langem fordert, nicht für Angriffe auf russisches Territorium einzusetzen. Bisher gibt es nur eine Entscheidung der westlichen Partner, ukrainische Piloten auszubilden, nicht jedoch, die Flugzeuge selbst zu liefern.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk