Dresden 1989: Helmut Kohls schwierige Rede
19. Dezember 2019Die Atmosphäre ist angespannt vor diesem 19. Dezember 1989, an dem Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Delegation nach Dresden geflogen sind. Zum ersten Mal nach dem Mauerfall sind sie aus der alten Bundesrepublik in die DDR gereist. Erklärtes Ziel der Reise ist ein Treffen mit DDR-Staatschef Hans Modrow, um mit ihm über die Zukunft der beiden deutschen Staaten zu reden. Doch viel wichtiger wird Kohls Ansprache.
Das Rednerpult wirkt klein, fast verloren auf dem großen Platz. Hinter ihm die Ruinen der traditionsreichen Dresdner Frauenkirche, zerstört 1945 im Zweiten Weltkrieg, belassen als Erinnerung, als Mahnung. Hier sollte der Kanzler eigentlich nur Blumen niederlegen. Vor dem Pult eine fast unübersehbare Masse an schwarz-rot-goldenen Fahnen, Menschen, die "Einheit, Einheit" rufen und "Helmut, Helmut".
Später nennt Kohl diese Rede eine der schwierigsten seines politischen Lebens. Denn: "Die Menschen haben auf eine Botschaft gewartet. Nicht nur hier auf dem Platz, sondern überall im Lande" erläutert er, im Westen wie im Osten. "Aber es haben natürlich Millionen aus dem Ausland, wo es auch Ängste gibt, die man berücksichtigen muss, zugehört, zugesehen."
Explosive Stimmung vermeiden
"Es war sehr still im Flugzeug", erinnert sich Dorothee Wilms, damals Ministerin für innerdeutsche Angelegenheiten an den Hinflug. "Kohl hat nochmal alle ermahnt, dass wir alle das Unsrige tun sollten, damit es nicht zu einer explosiven Stimmung in Dresden kommen würde."
Helmut Kohl ist bewusst: Die Alliierten, die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, schauen auf jeden Fingerzeig des Kanzlers. Seit er ein paar Wochen zuvor einen 10-Punkte-Plan zur deutschen Einheit präsentierte und außer dem US-amerikanischen Präsidenten niemandem Bescheid sagte, sind die vier Siegermächte aufgeschreckt. Neben den USA sind das Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion. Was wird aus dem geteilten und damit geschwächten Deutschland nach dem Mauerfall?
Gespannt ist die Situation aber auch in der DDR selbst. So kurz nach der Öffnung zum Westen sind viele verunsichert, was aus ihrem Staat und aus dem sozialistischen Gesellschaftsmodell wird. Kurz vor Kohls Besuch in Dresden ist einer Umfrage zufolge immer noch ein Großteil der Menschen gegen die deutsche Einheit.
Wiedervereinigung? Mit Modrow nicht
Doch dann wird Kohl schon am Flughafen empfangen von Menschenmengen, Sprechchören. Der Weg, den die Autos in die Stadt nehmen, ist gesäumt von jubelnden Bürgern. Sie sind gekommen, um den Kanzler zu sehen.
Nach den Verhandlungen mit den Ministern und dem Vier-Augen-Gespräch zwischen Kohl und Modrow ist der westdeutschen Delegation relativ schnell klar: Von der Regierung Modrow ist nicht viel zu erwarten. Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik erinnert sich, man habe auf Vorschläge zu politischen und wirtschaftlichen Reformen gehofft: "Und da kam nichts." Auf der gemeinsamen Pressekonferenz betont Hans Modrow noch einmal, dass er an die Existenz von "zwei unabhängig voneinander existierenden souveränen deutschen Staaten" glaube.
Kohls Ziel: "Die Einheit unserer Nation"
Dann am Nachmittag die vielen Menschen vor der Ruine der Frauenkirche. Am Vortag hatte Bürgerrechtler Herbert Wagner bei der Montagsdemonstration eine Ansprache Kohls angekündigt, obwohl die gar nicht auf dem offiziellen Programm stand. "Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, da wollten alle dabei sein", erinnert sich Wagner. Er hatte Rednerpodest und Lautsprecher bereitgestellt.
"Wenn man den Tag nochmal Revue passieren lässt: Morgens, wie die Menschen skandieren: 'Einheit, Einheit.' 'Helmut, Helmut'. Wenn Sie da als Politiker keine Antwort geben und zu den Menschen nicht sprechen, ich glaube, dann haben Sie Ihre Berufung verfehlt", sagt Maike Kohl-Richter, die Witwe des ehemaligen Kanzlers. Emotional sei es für Kohl "einer der größten Tage seines Lebens gewesen".
Eine knapp 15-minütige Ansprache hält Helmut Kohl, er bedankt sich für den Mut der Bürger in der DDR, die Revolution so friedlich vollzogen zu haben. Er mahnt, dass die Zukunft Deutschlands auch mit den europäischen Nachbarn abgestimmt werden müsse und schaut in die Zukunft: "Mein Ziel bleibt, wenn die historische Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation." Darauf johlt die Menge, es wird gesungen: "So ein Tag, so wunderschön wie heute." Kohl verabschiedet sich - sichtlich bewegt - mit einem "Gott segne unser deutsches Vaterland".
Bürgerrechtlerin: "Wenn du jetzt den Mund aufmachst, wirst du erschlagen"
"Hier wurde manifest: Die Bürger in der DDR wollen keinen dritten Sozialismus-Versuch, sie wollen die deutsche Einheit", erinnert sich Herbert Wagner 30 Jahre später an diesen besonderen Abend.
Doch in die Euphorie mischen sich auch Fragezeichen. Annemarie Müller, Dresdner Bürgerrechtlerin, war an dem Abend vor den Ruinen der Frauenkirche. "Ich habe gedacht, wenn du jetzt den Mund aufmachst, wirst du hier erschlagen. Da war so eine Euphorie da, dass die Leute gar nicht mehr diskutierbereit waren", erinnert sie sich. Müller hatte - wie einige in der Friedensbewegung - eine demokratische, eine eigenständige Zukunft für die DDR vor Augen.
Wiedervereinigung hat Wunden hinterlassen
Der Tag in Dresden - für die einen war er ein Schlüsselmoment deutscher Geschichte, der die schnelle Einheit weniger als ein Jahr später möglich machte. Für andere bleiben auch heute - 30 Jahre später - noch Fragezeichen. Deutschland ist wiedervereint, aber fühlen sich vor allem die Ostdeutschen auch wertgeschätzt?
Im März 1990 wurde in der DDR gewählt, das erste Mal frei. Der SPD-Politiker Markus Meckel war Teil dieser ersten Regierung, er hat die deutsche Einheit für die DDR mit verhandelt. Er blickt heute skeptisch auf die Rolle von Helmut Kohl: "Die Perspektive, wie man die DDR-Regierung, der ich angehört habe, behandelt hat nach 1990, war schon ziemlich verheerend, weil man so tat, als wäre die deutsche Einheit nur das Handeln des Kanzlers. Das hat dazu geführt, dass der Anteil Ostdeutschlands völlig ins Aus geraten ist."
Die Wiedervereinigung hat bei manchen Wunden hinterlassen, sie sind noch nicht verheilt. Weltweit werden die Einheit und der friedliche Prozess dorthin als Vorbild gesehen. In Dresden bekam Helmut Kohl von vielen Bürgern die Zustimmung für seinen Weg.