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Frankreichs lange Liste der Polizeigewalt

1. Juli 2023

Nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten in Nanterre kommt das Land nicht zur Ruhe. Es ist nicht das erste Mal, dass Menschen nach Polizeigewalt zu Tode kommen.

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Jugendlicher vor einem Porträt
Porträts der verstorbenen Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sur-Bois nahe ParisBild: EPA/LUCAS DOLEGA/picture alliance/dpa

Im Jahr 2022 haben französische Polizisten in 138 Fällen Schüsse auf fahrende Autos abgegeben. 13 Menschen starben bei Schießereien, die im Rahmen von Verkehrskontrollen stattfanden. Nun hat die Tötung des 17-jährigen Nahel am Dienstag im PariserVorort Nanterre eine Serie von Krawallen und Demonstrationen gegen mutmaßlich rassistische Polizeigewaltausgelöst. Nicht alle Fälle von Polizeieinsätzen mit Todesfolge haben in Frankreichsolche Wut entfacht, doch auch andere Ereignisse sind vielen Französinnen und Franzosen bis heute im Gedächtnis.

27. Oktober 2005, Clichy-sous-Bois - Tod von Zyed Benna und Bouna Traoré

Der 15-jährige Bouna Traoré und der 17-jährige Zyed Benna gehören zu zehn Jugendlichen, die sich nach einem Fußballspiel auf den Heimweg machen. Gleichzeitig erhält die Polizei einen Notruf - in einer Baubaracke sei eingebrochen worden. Auf der Suche nach den Tätern wollen die Polizisten die Gruppe kontrollieren. Traoré, Benna und ihr Freund Muhittin Altun haben keine Papiere bei sich und ergreifen die Flucht.

Die Polizei ordert Verstärkung, es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd. Die drei Teenager fliehen auf ein abgesperrtes Gelände und verstecken sich in einem Transformatorenhäuschen. Dort sterben Traoré und Benna an einem Stromschlag, ihr Freund überlebt mit schweren Verbrennungen.

Ein aufgezeichneter Funkspruch der Polizei sorgt für viel Wirbel: "Wenn sie auf das EDF-Gelände gehen, dann gebe ich nicht viel auf ihr Leben", sagt einer der verfolgenden Polizisten, als er die Jugendlichen über einen Zaun in Richtung eines Geländes des Strombetreibers EDF klettern sieht. Nach eigenen Angaben sei er aber davon ausgegangen, dass sie sich doch nicht dort aufhielten. Eine Kollegin, die sich zum Zeitpunkt der Verfolgungsjagd im Kommissariat befindet, verfolgt die Geschehnisse über Funk. 

Mehrere Dutzend vor allem junge Menschen, einige mit weißen T-Shirt mit den Namen der Jungen scheinen zu beten
Am 29.Oktober 2005 gedenken die Menschen in Clichy-sous-Bois den zwei verstorbenen JugendlichenBild: AP Photo/Christophe Ena/picture alliance

Beiden Polizisten wird wegen des Vorwurfs unterlassener Hilfeleistung der Prozess gemacht. Trotz der Lebensgefahr für die Jugendlichen hätten sie sich nicht um sie gekümmert. Zehn Jahre später spricht ein Strafgericht in Rennes beide Beamte in letzter Instanz frei. Begründung: Eine unmittelbare Gefahr für die Teenager sei nicht erkennbar gewesen, aus Sicht der Richter hätten die Polizisten verhältnismäßig gehandelt.

17. Juni 2007, Belleville - Tod von Lamine Dieng

Nach einem Streit zwischen Lamine Dieng und seiner Freundin greift die Polizei den 25-Jährigen auf und verfrachtet ihn in einen Polizeiwagen. Fünf Ordnungshüter drücken ihn gewaltsam mit einem Klammergriff nieder und pressen eine halbe Stunde lang Körper und Gesicht auf den Boden, seine Füße sind zusammengebunden, rekonstruiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Tat. Dieng verliert das Bewusstsein und erstickt.

Menschen demonstrieren mit großem Banner: Ohne Gerechtigkeit kein Frieden für Lamine Dieng
Demonstration für Lamine Dieng zehn Jahre nach seinem Tod am 17. Juni 2017 in ParisBild: Francois Guillot/AFP via Getty

13 Jahre später verdonnert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Frankreich zu einer Zahlung von 145.000 Euro an die Familie, um das Verfahren einzustellen und einer erneuten Verurteilung zu entgehen. Diengs Schwestern gründen nach der Tat das erste Wahrheits- und Gerechtigkeitskomitee, um aufzuklären, was damals wirklich geschah. Viele weitere sollten folgen.  

9. Juni 2009, Argenteuil - Tod von Ali Ziri

Der 69-jährige Algerier ist zu Besuch in Frankreich, um Hochzeitsgeschenke für seinen Sohn zu kaufen und trinkt zusammen mit einem Freund nach der Einkaufstour einige Gläser Alkohol. Als die beiden mit Ali Ziri als Beifahrer in eine Verkehrskontrolle der Polizei geraten, widersetzt sich Ziri den Beamten. Drei Polizisten fesseln den alkoholisierten Rentner auf dem Rücken, bringen ihn zum Polizeifahrzeug und fixieren ihn auf dem Weg zur Wache: Kopf zwischen die Knie, mit Handschellen gefesselt.

Menschen demonstrieren mit Banner "Gerechtigkeit für Ali Ziri"
Gerechtigkeit für Ali Ziri - Demonstration in Paris am 17.Juni 2017Bild: Francois Guillot/AFP

Ziri muss mehrmals erbrechen, fällt ins Koma und stirbt später im Krankenhaus. Er war erstickt. Auch hier verurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Frankreich, wegen "Fahrlässigkeit": Ziris Tochter erhält 30.000 Euro moralischen Schadenersatz, 7.500 Euro für Kosten und Ausgaben.

19. Juli 2016, Beaumont-sur-Oise - Tod von Adama Traoré

Der 24-Jährige, dessen Eltern aus Mali stammen, entkommt der Polizei zunächst bei einer Verfolgungsjagd, ehe er doch noch durch die Gendarmerie festgenommen wird. Drei Polizisten knien sich auf seinen Rücken, Adama Traoré sagt laut Protokoll der Festnahme, er bekäme keine Luft mehr. Die Polizei ruft einen Krankenwagen, doch als dieser eintrifft, ist Traoré bereits tot.

Viele Menschen demonstrieren mit Banner
Viele Parallelen zum späteren Tod von George Floyd in den USA - der Fall Adama TraoréBild: Jerome Gilles/NurPhoto/picture alliance

Es ist ein Fall, bei dem es weder Zeugen noch Videoaufnahmen gibt. Die genaue Todesursache ist umstritten: Ein Gericht geht von einer Vorerkrankung als Grund aus. Die Autopsie, die Traorés Familie anfertigen ließ, kommt zu dem Schluss, dass Traoré aufgrund äußerlicher Gewaltanwendung erstickt sei.

5. Januar 2020, Paris - Tod von Cédric Chouviat

Der 42-Jährige ist in der Nähe des Eiffelturmsmit dem Motorroller unterwegs, als er von der Polizei angehalten wird. Der Essens-Lieferant soll während der Fahrt telefoniert haben. Die Routinekontrolle gerät völlig aus den Fugen: Zwischen den vier Beamten und Cédric Chouviat kommt es zu einem verbalen Schlagabtausch, bis ihn die Polizisten mitsamt Rollerhelm mit dem Gesicht nach unten auf den Boden drückt.

Demonstranten halten ein langes Plakat mir verschiedenen Slogans und dem Konterfei Cédric Chouviats vor dem Eiffelturm
Am 3. Januar 2021 erinnern Demonstranten am Eiffelturm an den Tod von Cédric Chouviat ein Jahr zuvorBild: PHOTOPQR/LE PARISIEN/Olivier Corsan/picture alliance

Gleich sieben Mal ruft der Vater von fünf Kindern: "Ich ersticke!", wie sichergestellte Video- und Tonaufnahmen zeigen. Die Polizisten reagieren jedoch nicht, Chouviat verliert das Bewusstsein und stirbt 48 Stunden später im Krankenhaus. Ergebnis des Autopsieberichtes: Tod als Folge eines Kehlkopfbruchs.

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur