1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Unruhen in Frankreich: Hat die Polizei ein Gewaltproblem?

Rose Patrice Birchard in Paris
30. Juni 2023

13 Menschen wurden 2022 bei Verkehrskontrollen in Frankreich erschossen. Nach dem Tod des 17-jährigen Nahel bei Paris fordern nicht nur Aktivisten eine Polizeireform.

https://p.dw.com/p/4TFWD
Proteste in Frankreich nach dem Tod eines Teenagers durch einen Polizisten
Die Proteste in Frankreich gehen unvermindert weiterBild: Aurelien Morissard/Xinhua/IMAGO

Sirenen künden von der massiven Polizeipräsenz. Entsprechend gespannt ist die Stimmung am Donnerstagnachmittag in Nanterre. Die Straßen des Pariser Vorortes sind voll von Trauernden. Viele von ihnen tragen weiße T-Shirts mit der Aufschrift "Gerechtigkeit für Nahel". Der 17-Jährige war am Dienstagvormittag bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen worden.

Gegen den mutmaßlichen Schützen ist am Donnerstag ein formelles Untersuchungsverfahren eingeleitet worden. Wie die Staatsanwaltschaft mitteilte, sitzt er nun in Untersuchungshaft und wird der "vorsätzlichem Tötung" beschuldigt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beschrieb das Geschehnis als "unentschuldbar".

In Nanterre, einer Gemeinde vor Paris, münden Proteste gegen Polizeigewalt in Ausschreitungen
Die zweite Nacht der Gewalt: Am frühen Donnerstag brannten auch Autos in NanterreBild: Florian Poitout/ABACAPRESS/IMAGO

Der Vorfall hat drei Nächte hintereinander heftige Unruhen ausgelöst - nicht nur in den Vororten der französischen Hauptstadt. Randalierer bewarfen Polizisten mit Feuerwerkskörpern, steckten Autos, Mülltonnen und öffentliche Gebäude in Brand. Nach dem Trauermarsch in Nanterre kam es wieder zu Ausschreitungen. Dabei wurde auch eine Bankfiliale in Brand gesetzt, wobei die Flammen auf ein darübergelegenes Wohngebäude übergriffen. Die Feuerwehr konnte den Brand löschen, bevor Menschen zu Schaden kamen. Um die Krawalle im Zaum zu halten, hatte der Innenminister für die Nacht auf Freitag 40.000 Polizisten in ganz Frankreich mobilisiert. Erneut gab es mindestens 667 Festnahmen, davon 242 im Großraum Paris.

"Wir könnten jederzeit sterben"

Während des Trauermarsches, an dem nach Polizeiangaben 6200 Menschen teilnahmen, war es trotz angespannter Stimmung  noch weitgehend friedlich zugegangen.

"Es tut mir so leid für die Familie des Jungen, sein ganzes Leben lag vor ihm", sagt ein Anwohner der DW. Ein anderer sieht in dem Vorfall den Ausdruck genereller Missstände: "Wir leben in einem Land, in dem wir nicht sicher sind. Wenn wir ausgehen, könnten wir jederzeit sterben. Wir leben in Frankreich, das angeblich für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit steht, aber davon ist nichts übrig. Jetzt macht die Polizei die Regeln und macht was sie will. Wenn sie entscheiden, jemanden zu töten, tun sie es einfach." Er ist nicht der einzige, der ein grundlegendes Problem sieht.

Hat Frankreichs Polizei ein Gewaltproblem?

Menschenrechtsgruppen verlangen Antworten darüber, wie Polizeiarbeit in Frankreich funktioniert. Für das Europäische Netzwerk gegen Rassismus (ENAR) wirft der Tod von Nahel, der offenbar nordafrikanischer Herkunft war, "dringende Frage über den übermäßigen Gebrauch von Gewalt seitens Gesetzeshütern auf" - insbesondere gegenüber Gruppen, denen rassistische Klischees entgegenbracht werden.

In einer Stellungnahme gegenüber der DW rief ENAR die französische Regierung auf, "unverzüglich tätig zu werden, um auf die Sorgen zivilgesellschaftlicher Organisationen und Menschenrechtsgruppen über Straflosigkeit und rassistische Polizeiarbeit in Frankreich einzugehen".

Mehr Tote bei Verkehrskontrollen

Der Politikwissenschaftler Jacques de Maillard von der Universität Versailles-Saint-Quentin hat 2022 das Buch "Komparative Polizeiarbeit" veröffentlicht. Der DW sagte er, der Tod der 17-jährigen Nahel sei Teil eines größeren Trends: "Das sich verschlechternde Verhältnis zwischen der Polizei und jungen Männern der Arbeiterklasse, die ethnischen Minderheiten angehören, ist ein Schlüsselelement der Situation in Frankreich."

Heftige Proteste in Frankreich

"Wenn es um die öffentliche Ordnung geht, greift die Polizei in den letzten Jahren unzweifelhaft härter durch", sagt De Maillard. Ein Gesetz aus dem Jahre 2017 habe die Restriktionen gelockert, unter denen Beamte auf flüchtende Fahrzeuge schießen dürfen. Im vergangenen Jahr starben 13 Menschen in Schießereien bei Verkehrskontrollen - so viele wie noch nie.

Nachbarländer machen es besser

Polizeisprecherin Sonia Fibleuil weist zurück, dass die Polizeigewalt in Frankreich gestiegen sei: "2021 wurden in 157 Fällen Schüsse auf fahrende Fahrzeuge abgegeben, 2022 waren es 138 Fälle - der Trend ist also leicht rückläufig", sagte sie dem Sender Public Sénat. Insgesamt sei der Schusswaffengebrauch von 300 Fällen pro Jahr vor 2019 auf 285 im Jahr 2022 zurückgegangen. Die Polizei gebe nur Schüsse ab, wenn sie dazu gezwungen sei, schließlich gebe es strikte Regeln dafür. Der Rekord von Toten bei Verkehrskontrollen sei allerdings "dramatisch".

Politologe De Maillard sieht "nicht zu vernachlässigende Unterschiede" in Frankreichs Polizeiarbeit verglichen mit der in Deutschland und dem Vereinigten Königreich: "Es sieht so aus, als legten die Verantwortlichen in diesen Ländern größeren Wert auf die Legitimität der Polizei." Die deutsche Polizei neige zu mehr Vorsicht bei Überprüfungen der Identität, und die britischen Beamten verstünden sich eher als Partner der Öffentlichkeit.

Aktivisten fordern Polizeireform nach dem Tod des Teenagers

Die ENAR fordert eine unabhängige Untersuchungskommission zum Tod des 17-jährigen Nahel. "Das viel zu frühe Ende eines jungen Lebens durch rassistische Polizeigewalt erfordert sofortige Gerechtigkeit und Reformen", sagen die Aktivisten. "Solche Vorfälle verbreitern nur die Kluft zwischen der Polizei und den Menschen, die sie beschützen soll." Damit sich solche Tragödien nicht wiederholten, seien grundsätzliche Änderungen nötig. Und die seien nur durch gemeinsame Anstrengungen und eine Neudefinition der Polizeiarbeit zu erreichen.

Inmitten anderer Protestierender trägt eine junge Frau ein Protestschild, auf dem sie Gerechtigkeit für den getöteten Nahel fordert
Eine Demonstrantin in Paris fordert Gerechtigkeit für Nahel - "Justice pour Nahel"Bild: Ibrahim Ezza/NurPhoto/IMAGO

Auch De Maillard meint, dass sich etwas ändern müsse: "Die Polizei ist ja kein Totalausfall, aber es gibt eine kollektive Verantwortung", sagt der Wissenschaftler. "In meinen Augen hat die Institution eine allgemeinere Pflicht, Mechanismen bei Rekrutierung, Ausbildung und Management einzuführen, die darauf abzielen, das Agieren der Polizeibeamten unabhängig zu prüfen."

Die Situation in Frankreich sei allerdings sehr kompliziert: "Aus der Politik, vor allem aus dem rechten Spektrum, ist zu hören, dass nicht die Polizei, sondern die jungen Menschen das Problem seien." Und eine Polizeireform sei politisch ein heißes Pflaster.

Aus dem Englischen von Jan D. Walter