Frankreich ringt mit Rassismus-Problem
13. Juni 2020An einem milden Abend knien Hunderte von Menschen schweigend auf dem Place de la République in Paris nieder. Sie würdigen George Floyd, der etwa zur selben Zeit im 8.000 Kilometer entfernten Texas beerdigt wird.
Unter der hoch aufragenden Statue der Marianne, der Symbolfigur der Französischen Republik, halten Demonstranten ihre Plakate in die Luft: "Black Lives Matter - auch in Frankreich", "Nein zu Rassismus" und "Ich kriege keine Luft". Einigen Demonstranten fällt es sichtlich schwer, fast neun Minuten auf den Knien zu verharren. So lange drückte ein weißer Polizist sein Knie in Floyds Nacken.
Das Video, das die Brutalität dieser letzten Momente in Floyds Leben zeigt, ging um die ganze Welt. Auch in Frankreich sind die Proteste nach dem Tod des US-Amerikaners groß - auch, weil das Land selbst ein Problem mit Polizeigewalt hat.
"In Frankreich sagen wir, dass alle gleich sind, aber wir werden nicht gleich behandelt. Wenn man ein junger Schwarzer oder ein arabischstämmiger Mann ist, wird man von der Polizei ins Visier genommen und schikaniert", sagt Denis, ein 22-jähriger Schwarzer, der seinen Nachnamen nicht verraten möchte. "Wir denken uns das nicht aus. Die Weißen wollen uns nicht hören oder uns glauben. Sie denken, wir übertreiben."
Dina Sanches Tavares, eine Schwarze Frau, sieht das ähnlich. "Mein 16-jähriger Bruder wird ständig von der Polizei angehalten und kontrolliert - selbst wenn er nur vom Fitnessstudio nach Hause läuft. Ich habe große Angst um seine Sicherheit", sagt sie der DW. "Können Sie sich vorstellen, wie schrecklich es ist, wie ein Krimineller behandelt zu werden - nur weil man aussieht wie man aussieht?"
"Struktureller Rassismus"
Die Wut in Frankreich ist spürbar. Mit dem Tod von George Floyd ist auch die Debatte um den Fall Adama Traoré neu entfacht. Der 24-jährige Schwarze starb im Juli 2016 in Polizeigewahrsam. Auch wenn es keine Videos gibt, erinnern die Umstände an den gewaltsamen Tod von George Floyd.
Im vergangenen Monat veröffentlichte ein Gericht einen medizinischen Befund, der die Polizisten, die Traoré verhaftet hatten, entlastet. Traoré sei an gesundheitlichen Problemen und Herzversagen gestorben. Eine von der Familie in Auftrag gegebene Autopsie kam dagegen zu dem Schluss, dass der Tod mit den Methoden der Polizei bei der Festnahme des Mannes zusammenhing. Der Bericht löste in ganz Frankreich Proteste aus.
"Heute sprechen wir nicht nur über den Kampf der Familie Traoré. Es geht um den Kampf für alle. Wenn wir für George Floyd kämpfen, kämpfen wir für Adama Traoré", sagte seine Schwester Assa Traoré laut der Nachrichtenagentur AFP bei einem Protest Anfang Juni.
Ähnlich wie in den USA fordern auch in Frankreich Minderheiten Rechenschaftspflicht und mehr Transparenz von Seiten der Polizei.
"Sowohl bei der US-amerikanischen als auch bei der französischen Polizei ist Rassismus strukturell bedingt", sagt Madjid Messaoudene, ein Lokalpolitiker und Aktivist in Seine-Saint-Denis, einem nördlichen Vorort von Paris. Obwohl es in Frankreich weit weniger Todesfälle in Zusammenhang mit Polizeieinsätzen gibt als in den USA, sagen viele, dass Frankreich zu wenig gegen Polizeigewalt unternimmt.
"Wir haben viele Familien in Frankreich, die auf Gerechtigkeit für ihre von der Polizei getöteten Kinder warten. Sie können nicht einfach mit ihrem Leben weitermachen, weil sie das Gefühl haben, das Leben ihrer Kinder werde nicht als wichtig angesehen. Das muss sich ändern."
Polizeikontrollen gehören zum Alltag
Der Pariser Vorort Seine-Saint-Denis ist für seine hohe Arbeitslosenrate, Geringverdiener und Hochhäuser bekannt. Ähnlich wie die Banlieue - oder Vorstadt - in der Adama Traoré starb, wohnen hier viele arabischstämmige Menschen und Schwarze Menschen, die ihre Wurzeln in den ehemaligen französischen Kolonien haben.
Die Beziehungen zur Polizei sind seit langem angespannt. Zum Alltag vieler junger Männer gehören, so Madjid Messaoudene, Identitätskontrollen, Durchsuchungen, Schikanen und Gewalt durch Beamte.
"Wenn man jung und nicht-weiß ist und sich über die Polizei beschwert, wird einem niemand zuhören. Das ist einfach Tatsache", sagt Messaoudene. "Damit wirklich Gerechtigkeit geübt werden kann, muss gegen jeden rassistischen Beamten ermittelt werden, und er muss von der Polizei ausgeschlossen werden. Aber bisher ist noch kein Polizist in Frankreich ins Gefängnis gegangen, weil er jemanden getötet hat. Straffreiheit ist hier die Regel."
Beamte streiten Rassismus-Problem nach wie vor ab
Der französische Innenminister Christophe Castaner reagierte auf die Wut vieler Bürger über die Polizeigewalt. Er kündigte an, Frankreich werde den umstrittenen Würgegriff, mit dem Verdächtige bisher festgehalten werden dürfen, verbieten.
Außerdem leitete die Pariser Staatsanwaltschaft eine Vorermittlung ein, die rassistische Beleidigungen innerhalb einer Facebook-Gruppe untersucht. Verfasser einiger rassistischer Kommentare sollen unter anderem diensthabende Polizeibeamte gewesen sein.
Hohe Beamte haben trotzdem bestritten, dass das Land ein Rassismus-Problem hat. Von den Bürger wird erwartet, am Prinzip des Universalismus festzuhalten und sich unabhängig von der eigenen ethnischen oder religiösen Identität mit der Nation identifizieren. Im Jahr 2018 stimmten die Gesetzgeber dafür, das Wort "Rasse" aus der französischen Verfassung zu streichen und der Regierung ist es nicht erlaubt, Informationen über die ethnische Zugehörigkeit oder Religion der Menschen zu sammeln.
Entfernt sich Frankreich von der Farbenblindheit?
Doch laut Eric Fassin, Soziologieprofessor an der Universität Paris 8, ändern sich die Dinge langsam. Er verweist auf einen Bericht des französischen Bürgerbeautragten, der Beschwerden über öffentliche Behörden behandelt. In der Untersuchung wurde festgestellt, dass junge arabischstämmige und Schwarze Männer 20 Mal häufiger angehalten werden als andere Mitbürger. Aktivisten prangern diese Zustände seit Jahren an.
Die aktuellen Proteste, die Frankreich aufwühlen, bringen den Diskurs rund um Privilegien von Weißen und Rassismus weiter, sagt Fassin. Und das, obwohl politische Führungspersonen Diskussionen über systemischen Rassismus ablehnen.
"Viele Berichterstatter und Medien sprechen jetzt bei Demonstrationen sowohl über Schwarze als auch über Weiße. Die Menschen in Frankreich erkennen, dass es ein Rassismus-Problem gibt. Und dass es auch ein Problem der Polizei ist", so Fassin.
"Ich hoffe, wir erkennen, dass es nicht gegen die Demokratie geht, wenn wir Unterschiede ethnischer Gruppen anerkennen - sondern Demokratie fördert."