Die Große Liebe gewonnen
12. April 2015"Ich bin so glücklich und stolz", sagte John Degenkolb mit Dreck verschmiertem Gesicht im Ziel in Roubaix. Wenige Minuten zuvor hatte er als Erster die Ziellinie des wohl berühmtesten Eintages-Radrennes der Welt überfahren, spielend leicht fast, nach über 253 Kilometern von Paris ins belgische Roubaix. Zweifellos - der größte Moment in der Karriere des 26-Jährigen.
Es ist überhaupt das Frühjahr des John Degenkolb. Schon beim ersten großen Klassiker des Jahres, bei Mailand-Sanremo im März hatte er sein Können gezeigt, den Sieg geholt. "Sanremo war schon sehr emotional, aber das übertrifft alles. Das ist das Rennen, von dem ich immer geträumt habe, es einmal zu gewinnen. Es ist einfach unglaublich," stellte der gebürtige Thüringer, der jetzt in Frankfurt am Main lebt, klar.
"Seit 1896 hat es kein Deutscher geschafft, hier zu gewinnen. Wir haben es heute geschafft. Zwei Monumente des Radsports gewonnen mit dem Namen eines deutschen Sponsors auf der Brust - das ist ein großer Schritt für unseren Radsport".
Sieg mit Ansage
Der Erfolg auf der Radrennbahn von Roubaix kommt nicht von ungefähr. Bereits im vergangenen Jahr hatte er zu den Top-Favoriten gezählt, sich am Ende nur dem Niederländer Niki Terpstra geschlagen geben müssen, der damals nach einer Solofahrt reüssierte. Diesmal aber zeigte Degenkolb, dass er auch taktisch gereift ist, hielt sich zurück, wenn Zurückhaltung geboten war, griff an, als es Zeit war anzugreifen.
Nachdem die Belgier Yves Lampaert und Greg van Avermaet zwölf Kilometer vor dem Ziel attackiert hatten, stieg Degenkolb allein hinterher und schloss sechs Kilometer vor dem Ziel auf. "Keiner wollte mit mir zusammenarbeiten, also bin ich selbst gefahren. Ich hatte keine Angst davor, dass es schiefgehen könnte", erklärte Degenkolb voller Selbstbewusstsein die vorentscheidende Rennszene 8,5 Kilometer vor dem Ziel.
Auf der Gegengeraden der Betonrennbahn von Roubaix, auf der das Rennen traditionell seit 119 Jahren endet, griff er dann unwiderstehlich an und brachte gleich mehrere Radlängen zwischen sich und die Konkurrenten.
Fehlt nur noch die Tour
Bereits seit einigen Jahren zählt der Vater eines fünfmonatigen Sohnes, der seit 2012 für das Team Giant-Alpecin startet, zu den besten Eintagesfahrern der Welt. Er steht in den Siegerlisten der Cyclassics in Hamburg und bei Paris-Tours (jeweils 2013), im letzten Jahr kam der erste Platz bei Gent-Wevelgem hinzu. Aber auch bei den großen Rundfahrten ist mit Degenkolb zu rechnen: Neun Etappen gewann er inzwischen bei der Vuelta a Espana, der Spanienrundfahrt, bei der er 2014 auch die Punktewertung des besten Sprinters für sich entschied, dazu eine beim Giro d´Italia.
Kein Zweifel, der beurlaubte Polizeibeamte John Degenkolb ist inzwischen das Aushängeschild des neuen deutschen Radsports. Andre Greipel, Marcel Kittel, Toni Martin und er sind längst in die Fußstapfen der doping-beschädigten Ikonen Erik Zabel und Jan Ullrich getreten, stehen für einen sauberen Radsport. Das haben auch Wirtschaft und Medien erkannt. Erstmals seit Jahren wird die ARD wieder live von der Tour de France berichten, Degenkolbs Rennstall wird dann auch vertreten sein.
Bis dahin, bis zum Start der Schleife durch Frankreich am 2. Juli, ist für ihn Schonung angesagt, Lüttich-Bastogne-Lüttich Ende April wird er sich wohl schenken. Denn Degenkolb hat noch Ziele, obwohl er seine "große Liebe", Paris-Roubaix, jetzt schon gefunden hat. Wer so auftritt wie er, der darf auch auf das Grüne Trikot des Punktbesten bei der Tour de France schielen.