DFB-Team: Mittelstürmer dringend gesucht
16. November 2023Es gab Zeiten, da musste man sich als Fan der deutschen Fußball-Nationalmannschaft über einen Mangel an echten Torjägern keine Sorgen machen. Von Gerd Müller über Karl-Heinz Rummenigge, Rudi Völler und Jürgen Klinsmann als erfolgreiches Duo bis hin zu Miroslav Klose standen immer herausragende Mittelstürmer für das DFB-Team auf dem Platz.
Das konnte man in den vergangenen Jahren allerdings nicht mehr behaupten. Vielmehr hatte sich bereits in den letzten Jahren der Amtszeit von Bundestrainer Joachim Löw eine Philosophie durchgesetzt und etabliert, die ohne echten Strafraumstürmer auskam. Stattdessen übernahmen kleinere und wendigere Offensivspieler die Rolle der sogenannten "falschen Neun" - eine Kreation, die auf Pep Guardiola und dessen erfolgreiche Zeit mit Lionel Messi beim FC Barcelona zurückgeht.
Wende im deutschen Sturm
"Ich glaube, dass es an Angebot und Nachfrage zu dem Zeitpunkt lag", sagte Niclas Füllkrug bei der Pressekonferenz der Nationalmannschaft am Dienstag. "Es war Mode, mit einer 'falschen Neun' zu spielen, eher mit Technikern und kleingewachsenen Spielern." Der Stürmer von Borussia Dortmund ist der Beweis dafür, dass sich die Zeiten beim DFB-Team geändert haben.
Füllkrug, der erst vor einem Jahr sein Debüt in der Nationalmannschaft gab, ist mittlerweile gesetzt. Hansi Flick nahm den damaligen Bremer mit zur Fußball-WM in Katar, als eine Art Joker, den man in engen Spielen spät bringen konnte, um vielleicht doch noch ein Tor zu erzielen. Damit leitete er eine Wende im deutschen Sturm ein - sehr zur Freude Füllkrugs, der in seinen bisherigen elf Länderspielen bereits neunmal getroffen hat.
"Tore schießen ist einfach das Schönste beim Fußball spielen, zumindest für mich", sagt er. "Und ich finde es schön, wenn wir das an unsere Jugend weitergeben, wenn die Stürmer die Stars sind und die Kinder auch alle Tore schießen wollen."
Nagelsmann auf Kandidatensuche
Auch Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann setzt in seinem System mit Füllkrug auf einen zentralen Angreifer, ist aber gleichzeitig auf der Suche nach weiteren geeigneten Profis. "Mit Blick zur EM wollen wir noch einen zweiten oder dritten richtigen Stürmer dabeihaben", sagte Nagelsmann vor den anstehenden Länderspielen gegen die Türkei (Samstag, 20.45 Uhr MEZ in Berlin) und Österreich (Dienstag, 20.45 Uhr MEZ in Wien). Man habe, so Nagelsmann, einige Kandidaten, aber nicht allzu viele Gelegenheiten, sie noch zu testen, daher "müssen wir ein bisschen wechseln".
Nagelsmanns Problem: Zwar gibt es in der Fußball-Bundesliga herausragende Torjäger, allerdings kommen sie fast ausnahmslos aus dem Ausland: Harry Kane, Serhou Guirassy und Victor Boniface sind Mittelstürmer klassischen Zuschnitts. Eine deutsche Nummer neun von internationalem Format muss man dagegen mit der Lupe suchen - und selbst dann wird man kaum fündig.
Ausbildungsschwerpunkt nicht bei Mittelstürmern
Das liegt auch daran, dass in den Nachwuchsleitungszentren der Bundesliga- und Zweitligaklubs die Ausbildung von Mittelstürmern lange Zeit keine Priorität hatte. "Dem deutschen Fußball fehlt es schon länger an Spezialisten, zum Beispiel auf der Position des Mittelstürmers oder bei den Außenverteidigern", sagte Horst Hrubesch vor einigen Wochen gegenüber der "Süddeutschen Zeitung".
Hrubesch, früher selbst Mittelstürmer im Nationalteam, war von 2000 bis 2016 Trainer verschiedener Nachwuchsteams des DFB. Seit Anfang Oktober ist er Bundestrainer der Frauen-Nationalmannschaft.
Viele Vereine hätten das Augenmerk auf eher "kleine, flinke Spieler" gelegt. "Und für Pressing und schnelles Umschaltspiel benötigt ein Trainer schnelle Profis, deswegen kommen große Stürmer etwas zu kurz", erklärte der Europameister von 1980, der seiner aktiven Zeit den Spitznamen "Kopfballungeheuer" trug, in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe.
Behrens, Duksch und wer noch?
Nach einem solchen "Kopfballungeheuer" muss jetzt auch Nagelsmann fahnden. Nachdem bei der USA-Reise Kevin Behrens von Union Berlin sein Debüt beim DFB geben durfte, ist diesmal Werder Bremens Marvin Duksch dabei, ein Angreifer, den laut Nagelsmann unter anderem ein gewisser "Grad an Verrücktheit" auszeichnet.
"Er hat seine Leistungen stabilisiert und dadurch auch Werder Bremen stabilisiert", sagte der Bundestrainer über Duksch. "Er hat sehr gute Standards, hat einen guten Torabschluss und kennt Niclas Füllkrug sehr gut. Auch das ist eine Komponente, die uns helfen kann."
Neben Behrens und Duksch gibt es nur wenige Alternativen: Möglicherweise dürfen sich Deniz Undav vom VfB Stuttgart, Tim Kleindienst vom 1. FC Heidenheim oder auch Kölns Davie Selke und Zweitliga-Torjäger Robert Glatzel vom Hamburger SV noch Hoffnungen machen, beim Bundestrainer vorspielen zu dürfen.
Nur noch zwei Länderspiele
Allerdings wird die Zeit knapp: Nagelsmann bleiben im EM-Jahr nur wenige Gelegenheiten zum Ausprobieren. Im März stehen noch zwei Test-Länderspiele an, im Juni zwei weitere. Bereits am 7. Juni muss dann der endgültige EM-Kader, bestehend aus 23 Spielern, bekanntgegeben werden. Die Fußball-EM beginnt am 14. Juni.
Vielleicht hilft es da, dass zum Trainerteam um Nagelsmann mit Sandro Wagner auch ein ehemaliger Mittelstürmer gehört, der den Blick hat, um den oder die richtigen Angreifer für die Heim-EM auszuwählen. Wagner wurde 2018, obwohl er bester deutscher Bundesliga-Torschütze war, von Joachim Löw nicht für die WM in Russland nominiert.
Danach war Wagner so erbost und verletzt, dass er seinen sofortigen Rücktritt aus der Nationalelf erklärte. Sein einziger Fehler: Er war ein klassischer Mittelstürmer und passte daher damals einfach nicht ins System.