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Deutschland: Streit in Berlin überschattet Hessen-Wahl

2. Oktober 2023

In Hessen wird am 8. Oktober gewählt. Landespolitik interessiert viele Wähler aber nur am Rand. Sie machen ihre Stimmabgabe von dem abhängig, was in Berlin passiert.

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Wahlkampf-Plakate hängen an Laternenmasten an einer Straße
Wichtige Lokal-Themen in Hessen werden vom Ampelstreit in Berlin überschattetBild: Florian Gaul/IMAGO

Eine Wespe umkreist Tarek Al-Wazir und kommt ihm gefährlich nah. Der grüne Wirtschafts- und Verkehrsminister von Hessen steht in Frankfurt am Main vor Bürgern in der Sonne und erklärt ihnen, was seine Partei in der Regierungskoalition mit der CDU seit 2014 angepackt hat.

Al-Wazir versucht, die Wespe zu ignorieren. Nach der Auflistung von typisch grünen Themen wie dem öffentlichen Nahverkehr und Klimaschutz kommt der 52-Jährige auf die Wirtschaft izu sprechen. In Hessen habe es gegen den bundesweiten Trend zuletzt ein Konjunkturplus gegeben, sagt er mit Nachdruck. "Öko. Wie in Ökonomie" - mit diesem Wortspiel wirbt der Minister für sich.

Am Flughafen Frankfurt arbeiten Menschen aus 90 Nationen

Zwar ist das Wachstum mit 0,4 Prozent marginal, aber grundsätzlich liegt Hessen bei der Wirtschaftsleistung unter den 16 deutschen Bundesländern im oberen Feld. Von den rund 6,3 Millionen Einwohnern erwirtschaftete jeder Erwerbstätige 2022 rund 91.000 Euro, das ist der dritthöchste Wert nach Hamburg und Bayern. 

Ein Mann steht an einem Wahlkampfstand mit einem Mikrofon in der Hand und redet. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und ein hellblaues Hemd. Neben ihm steht eine grüne Flagge, auf der Bündnis 90 Die Grünen zu lesen ist. Im Hintergrund ist der weiße Wahlkampfstand zu sehen, auf dem "Hessen lieben" steht
"Öko. Wie in Ökonomie" - Für Tarek Al-Wazir sind die Wirtschaft und die Grünen keine GegensätzeBild: Sabine Kinkartz/DW

Der Wirtschaftsmotor des Landes ist die Metropolregion Frankfurt mit dem größten deutschen Flughafen. Rund 81.000 Menschen aus 90 Nationen sind allein hier beschäftigt. Hessen hat einen Ausländeranteil von knapp 17 Prozent, wobei es große Unterschiede zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten gibt. In Frankfurt haben 29 Prozent der Einwohner einen ausländischen Pass, im benachbarten Offenbach liegt die Quote bei knapp 37 Prozent.

"Falls die Moslems die Macht übernehmen"

Tarek Al-Wazir wurde in Offenbach geboren, als Sohn einer Deutschen und eines Jemeniten. Mit seinem arabischen Namen hat er in seiner politischen Karriere Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung machen müssen. Auch durch die CDU. Ende der neunziger Jahre bat ihn ein CDU-Abgeordneter im Landtag in Wiesbaden, ein gutes Wort einzulegen, "falls die Moslems die Macht übernehmen".

Die Spitzenkandidaten der Landtagswahl in Hessen. Tarek Al-Wazir (Grüne), Nancy Faeser (SPD) und Boris Rhein (CDU) stehen gemeinsam in einem prunkvollen Saal mit Gewölbe im Staatstheater Wiesbaden. Al-Wazir und Rhein geben sich die Hand, Faeser blickt in eine andere Richtung
Werden Boris Rhein (CDU, re.) und Tarek Al-Wazir (Grüne) die nächste Landesregierung anführen? Rhein könnte sich auch ein Bündnis mit der SPD vorstellen - ohne Nancy Faeser (Mitte), die im Fall einer Niederlage Bundesinnenministerin in Berlin bleiben willBild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Das Verhältnis zur CDU ist inzwischen ein Gutes. Man arbeite reibungslos zusammen, sagt Al-Wazir, der stellvertretender Ministerpräsident ist und stolz darauf, dass er bei den Bürgern beliebter ist als CDU-Ministerpräsident Boris Rhein. Nutzen können die Grünen aus dem Sympathie-Vorsprung allerdings kaum ziehen.

Berlin: 500 Kilometer entfernt und politisch doch so nah

Sie bekommen die Frustration ab, die den Grünen, aber auch der SPD und der FDP in ganz Deutschland entgegenschlägt. Im Bund regieren die drei Parteien zusammen. Doch ob Klimaschutz, Heizungsgesetz, Finanzen oder Asyl- und Flüchtlingspolitik, die Ampel, wie die Koalition wegen ihrer Parteifarben rot, gelb und grün genannt wird, ist seit Monaten heillos zerstritten. Nicht einmal jeder zweite Deutsche ist noch mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden.

Schlecht für die Wahlkämpfer in Hessen: Für jeden zweiten Wahlberechtigten ist die Bundespolitik bei der persönlichen Wahlentscheidung wichtiger als die Landespolitik. Das geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest-dimap von Ende September hervor. Danach kann die CDU bei der Landtagswahl mit rund 31 Prozent rechnen. Die Grünen haben zuletzt massiv verloren und kommen in der Umfrage auf 17 Prozent. Die SPD, die mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Rennen ist, liegt abgeschlagen bei 16 Prozent, die AfD bei 15 Prozent. Die FDP kommt in der Umfrage auf sechs Prozent und damit knapp über der Fünf-Prozent-Hürde, die Links-Partei und die Freien Wähler werden voraussichtlich an ihr scheitern.

Hessen: Wut über den Ampel-Streit

Die Wespe ist hartnäckig und umkreist den Kopf von Tarek Al-Wazir. Vorsichtig wedelt er mit seiner Hand und kann sie schließlich vertreiben. "Die Farbkombination schwarz-gelb ist in der Natur ein Zeichen für Gefahr", doziert der Grüne in Anspielung auf ein Bündnis von CDU und FDP. Die politische Gefahrenlage für seine Partei kann er nicht so leicht loswerden, auch wenn er immer wieder klarmacht, wie falsch er das findet, was die Ampel-Koalition im Bund macht.

Ein Wahlkampfbus steht neben einem Polizeiwagen. Auf dem Bus ist das Bild von Tarek Al-Wazir zu sehen
Grüne Politiker werden immer häufiger bedroht und tätlich angegriffen. Auch im Wahlkampf ist Polizeischutz normal gewordenBild: Sabine Kinkartz/DW

"Ordentlich zu regieren heißt für mich, hinter verschlossenen Türen mit dem Koalitionspartner zu diskutieren und Lösungen zu finden." Politische Meinungsverschiedenheiten dürften nicht auf offener Bühne ausgetragen werden. "In Hessen haben Sie einen solchen Zirkus mit mir nie erlebt."

"Keine Ampel für Hessen"

SPD-Politikerin Nancy Faeser, als Bundesinnenministerin Mitglied der Berliner Ampel-Regierung, verteidigt das Bündnis hingegen und könnte es sich auch für Hessen vorstellen. Eine Steilvorlage für die CDU, die mit dem Slogan "Keine Ampel für Hessen" und "Kurs statt Chaos" dagegen hält und damit offensichtlich punkten kann. Selbst in der SPD fragen sich inzwischen viele, ob Faesers Kandidatur ein Fehler war.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sitzt an einem braunen Holztisch und schreibt etwas in ein großes Buch. Im Hintergrund stehen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Kommunalpolitiker der Stadt Baunatal in Hessen und schauen zu. Auf dem Tisch stehen Blumen und Geschenke
SPD-Parteifreunde: Bundeskanzler Olaf Scholz beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Baunantal, wo der Kanzler Bundesinnenministerin Nancy Faeser beim Wahlkampf unterstützteBild: Sabine Kinkartz/DW

Die Ministerin hat immer gesagt, dass sie nur im Fall eines Wahlsieges nach Hessen wechseln würde. Ihre Arbeit in Berlin und der Wahlkampf: ein Spagat. Wegen der Migrationskrise in Deutschland und Europa ist sie stark gefordert. Viel Wirbel gab es auch, weil die Ministerin den Präsidenten des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik, Arne Schönbohm, zu Unrecht seines Amtes enthoben haben soll. 

CDU nennt Faeser "Sicherheitsrisiko"

Schnell hieß es bei der CDU, Faeser vernachlässige ihre Arbeit in Berlin zugunsten des Wahlkampfs. Aus der hessischen Landtagsfraktion musste sie sich anhören, sie sei "ein Sicherheitsrisiko für Deutschland und auch für Hessen". Die so Gescholtene schlug zurück. Ministerpräsident Boris Rhein grenze sich nicht ausreichend gegen rechte Kräfte ab, warf Faeser der CDU bei einem Wahlkampfauftritt mit Bundeskanzler Olaf Scholz im hessischen Baunatal vor. "Hessen hat ein Problem mit Rechtsextremismus", hatte die Bundesinnenministerin schon 2022 beklagt.

Anschlag von Hanau: Kampf gegen das Vergessen

Tatsächlich stellt der Landesverfassungsschutz einen weiteren Anstieg rechtsextremer Gewalt fest. Der Terroranschlag in Hanau, bei dem 2020 acht Männer und eine Frau getötet wurden, ist nur eins von mehreren rechtsextremistischen Verbrechen in den letzten Jahren. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag soll klären, ob es in Hanau ein Versagen der Behörden gab. Der Abschlussbericht liegt noch nicht vor, CDU und Grüne wollten das Thema aus der Landtagswahl heraushalten und sorgten mit ihrer parlamentarischen Mehrheit gegen den Willen der oppositionellen SPD für eine Vertagung bis nach der Wahl.

Boris Rhein fährt Karussell

Je weiter SPD und Grüne in den Umfragen zurückfallen, umso besser wird die Stimmung bei der CDU. Erst im Frühjahr 2022 übernahm Boris Rhein das Amt des Ministerpräsidenten von seinem Vorgänger Volker Bouffier, der aus Alters- und Gesundheitsgründen zurücktrat. Rhein gilt als konservativ, aber auch als umgänglich und ausgleichend. Sein größtes Problem liegt derzeit in seinem Bekanntheitsgrad. Selbst im Wahlkampf laufen Menschen an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Ein Mann im Anzug steht auf einem Platz und spricht lachend mit zwei Bürgern. Die Männer sind auf dem Foto von hinten zu sehen
Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (mit Bürgern in Frankfurt) ist bestens gelaunt angesichts der guten Umfragewerte für die CDU Bild: Sabine Kinkartz/DW

Rhein lässt sich davon nicht beirren. Er tourt tatkräftig durchs Land und absolviert bestens gelaunt einen Termin nach dem anderen. Der 51-Jährige bemüht sich, bodenständig und bürgernah zu wirken. Er fährt Karussell auf Jahrmärkten, macht Selfies mit Jugendlichen und fachsimpelt mit Buchhändlerinnen darüber, welche Romane man derzeit lesen sollte.

Keine Zusammenarbeit mit der AfD

Neben Landesthemen wie der Reduzierung der Grunderwerbssteuer oder der Einführung einer "Fußfessel für Frauenschläger" setzt auch Rhein im Wahlkampf auf Bundesthemen. In der Migrationspolitik fordert er mehr Kontrollen und Schutz an den Binnengrenzen, eine Rückführungsoffensive für abgelehnte Asylbewerber und die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten auf Algerien, Marokko, Tunesien und Indien.

Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) steht in einer Buchhandlung in Frankfurt vor einem Büchertisch, hält ein Buch in der Hand und spricht mit einer neben ihm stehenden Frau. Im Hintergrund sind Frankfurter Bürger zu sehen
"Ich habe immer ein Buch neben dem Bett liegen und lese jeden Abend", lässt Boris Rhein (CDU) im Wahlkampf wissenBild: Sabine Kinkartz/DW

Wie es politisch nach der Wahl weitergehen soll, da will sich der CDU-Politiker nicht festlegen. "Ja, wir haben gut und gerne mit den Grünen zusammengearbeitet, aber ich habe durchaus auch gute Kontakte zur hessischen Sozialdemokratie", betont er. Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt Rhein hingegen kategorisch aus.