Neues Gutachten zum Anschlag von Hanau
4. Juni 2022Am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Tobias R. in zwei Bars und einem Kiosk insgesamt neun Menschen mit Migrationshintergrund und verletzte fünf weitere. Anschließend kehrte er in seine Wohnung zurück, erschoss dort seine Mutter und dann sich selbst. Die Staatsanwaltschäft ordnete das Verbrechen als rechtsextremistisch und rassistisch motiviert ein. Der Attentäter hatte zuvor ein rassistisches Manifest auf seiner Webseite veröffentlicht.
In Frankfurt ist eine Ausstellung über das Attentat von Hanau eröffnet worden, die neue Fragen hinsichtlich des damaligen Eingreifens der Polizei aufwirft. Das meiste hier zugängliche Beweismaterial ist noch nie veröffentlicht worden, und auf vieles konnte selbst der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der die Rolle der Einsatzkräfte unter die Lupe nahm, nicht zurückgreifen.
Hessens Innenminister Peter Beuth zufolge leistete die Polizei beim Einsatz in Hanau "exzellente" Arbeit. Die Angehörigen der Opfer haben jedoch wiederholt vorgebracht, dass sie nach dem Attentat von der Polizei überwacht und verdächtigt wurden, während potentielle rechtsextreme Täter von den Behörden ignoriert würden – so lange, bis es zu Gräueltaten kommt.
Die "Initiative 19. Februar", die die Überlebenden des Attentats von Hanau und die Angehörigen der Opfer repräsentiert, beauftragte die unabhängige Ermittlungsagentur Forensic Architecture mit einer Untersuchung. Das Resultat ist die Ausstellung "Three Doors", die am Donnerstagabend im Frankfurter Kunstverein offiziell eröffnet wurde. Dabei wurde die Initiative von Cetin Gültekin vertreten, dem Bruder von Gökhan Gültekin, der von R. in der Hanauer Arena Bar erschossen worden war.
"Wir wollen der Öffentlichkeit zeigen, dass wir diese Arbeit machen, was eigentlich die Polizei machen muss", sagte Gültekin der DW, nachdem er sich in einer leidenschaftlichen Rede an die vor dem Gebäude versammelten Menschen gewandt hatte. "Und wenn wir dieses Beweismaterial auf den Tisch legen, wenn alles offenkundig ist, können wir darlegen, dass die Polizei richtig versagt hat."
Verzögerungen
Forensic Architecture ist ein britisches Unternehmen, das kürzlich eine Berliner Zweigstelle eröffnet hat. Es präsentiert das Beweismaterial in Form von extrem detaillierten Zeitabläufen und Videos, die sorgfältig zusammengesetzt wurden anhand von Zeugenaussagen, Videomaterial aus einem Polizeihubschrauber und aus Überwachungskameras. Das Material wurde bearbeitet, um sicherzustellen, dass seine Veröffentlichung gesetzeskonform ist. Darüber hinaus hält Forensic Architecture seine Quellen geheim.
Die Ausstellung legt nahe, dass die hessische Polizei das Haus des Täters für mehr als eine Stunde nicht unter Beobachtung hatte, obwohl seine Adresse bekannt war und Polizeifahrzeuge in seiner Nähe postiert waren.
Tonexperimente, die Forensic Architecture durchführte, weisen darauf hin, dass in der Nähe befindliche Polizeikräfte den Schuss, der die Mutter von Tobias R. tötete, hätten hören müssen.
"Dass die Polizei die Schüsse hätte hören müssen, dass das SEK die Schüsse hätte hören müssen, das wirft ja weitere Fragen auf", sagt Heike Hofmann, Sozialdemokratin und Obfrau der SPD-Landtagsfraktion im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag von Hanau. "Womöglich hätte die Mutter gerettet werden können. Aber der Täter hätte vielleicht auch lebend gefasst werden können."
In einem Statement vom 4. Juni fügte sie hinzu: "Die Arbeit von Forensic Architecture bestätigt, was man bisher schon ahnen konnte: Die Polizeikräfte an den Tatorten, aber auch und vor allem die Polizeiführung waren in der Nacht des 19. Februar 2020 mit der Lage überfordert."
Die hessische Polizei gab an, dass Beamte gegen 22.50 Uhr am Haus des Täters eintrafen und zunächst versuchten, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Doch nach "intensiven Aufklärungsmaßnahmen der Spezialeinheiten vor Ort sowie mehreren erfolglosen Kontaktaufnahmen der Verhandlungsgruppe" wurde das Haus gegen drei Uhr früh gestürmt. Die Polizei gab an, dass die Stürmung verschoben wurde, um verschiedene Szenarien auszuschließen, etwa ein Feuergefecht mit dem Täter, oder Gefährdung der Einsatzkräfte durch eventuell im Haus aufgestellte Sprengfallen.
"Ein schnelles und somit stark risikobehaftetes Vorgehen war nach Bewertung der Gesamtumstände nicht geboten", so die Polizei. In der Stellungnahme wurden die Zeitfenster, in denen das Haus anscheinend unbewacht war, nicht erwähnt; es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass ein Hubschrauber im Einsatz war, um das Gebiet den ganzen Abend hindurch aus der Luft zu kontrollieren.
Das Videomaterial aus dem Polizeihubschrauber, das auf der Ausstellung zu sehen ist, sorgt jedoch für Stirnrunzeln. Der Austausch der Piloten zeigt, dass sie kaum Kontakt hatten mit den Einsatzkräften am Boden. Sie kannten die Adresse des Täterhauses nicht und kreisten ziellos im Einsatzgebiet umher.
"Three Doors" präsentiert zudem neues Beweismaterial zu anderen Gesichtspunkten des Attentats. So war etwa der Notausgang der Arena Bar am Abend des Attentats verschlossen, mutmaßlich auf Verlangen der Polizei, die hier routinemäßig Drogenrazzien durchführte.
Im August 2021 stellte die Hanauer Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen den Besitzer der Bar ein, da sie nicht abschließend beweisen konnte, ob der Notausgang am Abend des Attentats verschlossen war oder ob die Opfer ihn als Fluchtweg hätten benutzen können.
Die Ausstellung kommt in beiden Punkten zu anderen Schlüssen. Von der DW um Stellungnahme gebeten, gab die Staatsanwaltschaft Hanau jedoch an, sie habe ihren Ausführungen vom letzten August nichts hinzuzufügen.
Rassistische Chats
Auf der Eröffnungsveranstaltung war das Gefühl der Wut, das die Angehörigen der Opfer immer noch verspüren, deutlich wahrnehmbar. Diese Wut richtet sich nicht nur gegen vermeintliches Polizeiversagen und den Mangel an Klarheit in Bezug auf den Notausgang der Arena Bar. Sie richtet sich auch gegen die Art und Weise, mit der die Familien der Opfer nach dem Attentat behandelt wurden.
Die Familien gaben an, dass man ihnen nicht sagte, wo die Körper der Verstorbenen nach der Tat für vier Tage aufbewahrt wurden. Sie sagten auch, dass die Polizei sie telefonisch davor gewarnt habe, sich am Vater des Täters zu rächen, der mutmaßlich die rechtsextremistischen Ansichten seines Sohnes teilte. "Wir waren auf uns alleine gestellt. Vertrauen in die Polizei ist dahin", sagt Gültekin der DW.
Diese Gefühle verstärkten sich im Juni 2021, als publik wurde, dass 13 Mitglieder des SEK, das seinerzeit in Hanau im Einsatz war, suspendiert wurden, weil sie in einer Chatgruppe aktiv waren, in der rassistische und rechtsextremistische Inhalte gepostet wurden. Die hessische Landesregierung löste die Einheit daraufhin auf.
Aus dem Englischen adaptiert von Werner Schmitz.