Der Testfall: Istanbuls Bürgermeisterwahl
23. Juni 2019Die Türkei steht vor einer historischen Wahl. Niemals zuvor hat eine Kommunalwahl am Bosporus so viel internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die 16-Millionen-Metropole ist nicht nur ein Touristen-Magnet mit spektakulären Sonnenuntergängen, sondern hier steckt auch viel Geld für die regierende AKP-Partei. Nun werden hier nun die Bürger zum zweiten Mal in drei Monaten an die Urnen gebeten.
Im Rennen sind zwei Kandidaten. Der AKP-Kandidat ist Binali Yildirim. Er war Premierminister der Türkei, bis Präsident Erdogan ein Referendum initiierte, dass dieses Amt abschaffte und die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem ersetzte. Gegen ihn tritt Ekrem Imamoglu von der säkular-kemalistischen CHP an. Er gewann bereits die erste Wahl am 31. März.
Doch die Hohe Wahlkommission hat sie unter dem Druck der regierenden AKP aufgrund von angeblichen "Unregelmäßigkeiten" für ungültig erklärt. Diese Entscheidung wurde international kritisiert, auch in Deutschland.
Nun verstehen viele die Wahl als Testfall. Dazu gehört Nils Schmid. Der außenpolitische Sprecher der SPD sieht die Wahl als "Bewährungsprobe für die türkische Demokratie" und fordert freie und faire Wahlen.
Ob die Wahl korrekt und ohne Manipulationsversuche abläuft und ob Erdogan bereit ist oder nicht, eine Niederlage für die AKP hinzunehmen - das könnte die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei mildern oder weiter anheizen.
Wahrscheinlich werde die AKP einen möglichen erneuten Sieg von Oppositionskandidat Imamoglu jetzt akzeptieren, glaubt Türkei-Experte Demir Murat Seyrek von der Europäischen Stiftung für Demokratie (EFD) in Brüssel. Denn die Wahlergebnisse noch einmal in Frage zu stellen, mache "den Eindruck, dass es in der Türkei keine Demokratie mehr gebe und Wahlen nichts änderten". Das wolle Erdogan unbedingt vermeiden, schließlich würde das unter anderem der Opposition Aufwind verschaffen.
Der Anfang vom Ende?
Weil diese Kommunalwahl richtungsweisend ist, hält sich der deutsche Linken-Politiker Hakan Tas derzeit in der Türkei auf und möchte den Urnengang in mehreren Wahllokalen beobachten. "Istanbul ist die Stadt, aus der die AKP die meisten Einnahmen zieht und ihr nahestehende Institutionen finanziert", so Tas. Er glaubt, dass die AKP-Führungskräfte "ihre Taschen packen müssen", wenn Imamoglu gewinnt.
Anders sieht das Bjian Djir-Sarai, außenpolitischer Sprecher der FDP. Er wisse, dass "einige schon vom Ende des Systems Erdogan reden", falls die AKP die Wahl verliert. Er glaube das nicht. Aber natürlich handele es sich um eine "strategische Wahl mit Symbolcharakter", die für die "Weiterentwicklung der Türkei auch außerordentlich wichtig sein wird", so der FDP-Politiker.
Türkei-Experte Seyrek rechnet damit, dass die Machtverhältnisse sich nach der Wahl verschieben werden - "wahrscheinliche werden neue Akteure auf der politischen Bühne erscheinen", selbst wenn die Opposition verlieren sollte.
In den türkischen Medien wurde mehrfach berichtet, dass der ehemalige Präsident und AKP-Mitbegründer Abdullah Gül mit Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan zusammen eine neue Partei gründen könnte. Ob das tatsächlich passieren wird - und wenn ja, welche Auswirkungen das auf die türkische Parteienlandschaft hätte -, ist aber völlig offen.
Investoren beobachten Wahl
Die miserable Wirtschaftslage der Türkei ist ein Grund dafür, so sagen Experten, dass Erdogan das Wahlergebnis in jedem Fall akzeptieren werde. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die türkische Lira hat rapide an Wert verloren und türkische Unternehmen haben hohe Fremdwährungsschulden. Der Präsident kann es sich nicht leisten, die Finanzmärkte oder ausländische Investoren zu verschrecken. "Wirtschaftsreformen können nicht weiter aufgeschoben werden," sagt Seyrek.
Ausländische Unternehmen, darunter viele deutsche, "beobachten die politischen Rahmenbedingungen natürlich auch sehr genau", so FDP-Mann Djir-Sarai. "Wenn die Entwicklung in der Türkei so negativ weitergeht, wenn die Türkei sich weiter so isoliert, wenn die Rechtsstaatlichkeit weiterhin so systematisch abgebaut wird - dann ist es im Grunde genommen eine Frage der Zeit, dass auch diese Unternehmen ihre Tätigkeiten einschränken."
Deutsche Unternehmen und Investoren sind besonders wichtig für die Türkei. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner. Laut Industrie- und Handelskammer sind mehr als 6.500 deutsche Unternehmen in der Türkei tätig, sie beschäftigen 120.000 Menschen. Doch in den vergangenen Jahren haben die Spannungen zwischen den beiden Staaten, die Menschenrechtsverletzungen und die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei die Sichtweise vieler Investoren verändert.
SPD-Politiker Schmid fordert dringend Reformen: "Wenn Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet wird, wenn Korruption um sich greift, dann sind das schlechte Bedingungen für ausländische Investoren. Und das hat die Türkei schon in den vergangenen Jahren zu spüren bekommen."
"Ein außerordentlich schwieriger Partner"
Trotz all dieser Defizite bleibt die Türkei wichtig für Deutschland und die NATO. "Die Türkei ist natürlich ein schwieriger bzw. ein außerordentlich schwieriger Partner geworden, aber letztendlich ist die Türkei ein Partner", so FDP-Mann Djir-Sarai. "Das heißt, wir müssen mit dieser Türkei im Dialog bleiben und die Zusammenarbeit fortsetzen."
Die Welt wird die Wahl in Istanbul sehr genau beobachten. Falls Oppositionspolitiker Imamoglu gewinnt, dann wird das die zweite Niederlage in Folge für den Autokraten vom Bosporus sein - seine Kritiker werden Hoffnung schöpfen können. Und wenn AKP-Mann Yildirim gewinnt, dann wird der Präsident über seinen Parteifreund wieder die Fäden ziehen können in der Stadt, in der seine politische Karriere einst begann.