Der neue Walser: Ein Roman, der keiner ist
27. März 2018"Der Mensch ist ein Dichter. Und wenn er kein Dichter mehr ist, dann ist er auch kein Mensch mehr", schreibt Martin Walser im April 1979 in sein Tagebuch. Leben und Schreiben sind seither für ihn untrennbar miteinander verbunden, und dieses Credo ist die Antriebskraft für sein unermüdliches Schreiben geblieben. Seine Tagebücher - drei Bände - sind längst als literarisches Zeugnis in Buchform veröffentlicht und in sein Gesamtwerk eingegangen.
Martin Walsers aktuelles Buch "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte", das am 27. März erschien, ist ein schmaler Band: 112 Seiten, eher ein kalendarischer Essay, Gedanken in Briefform, eine literarische Selbstvergewisserung. Aber der berühmte Autor habe darauf bestanden, dass dieses Buch als Roman herauskommt, so Regina Steinicke vom Rowohlt-Verlag in Hamburg.
Literarische Meditation über das Leben
Sein letzter Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank" (2017) firmierte mit seinen 52 kurzen Kapiteln - wohlwollend kategorisiert - noch als "Meisterwerk der späten Walser-Ära", wie die Literaturkritiker urteilten. "Das innere Selbstportrait schlechthin", war da in der Wochenzeitung "Die Zeit" zu lesen. "Eine Meditation über ein langes Leben", fügte die "Süddeutsche Zeitung" hinzu. Das könnte man über sein aktuelles Buch ebenso sagen. Ein Meisterwerk aber ist es nicht.
Der Inhalt von Walsers neuem Buch ist schnell erzählt: Durch ein unachtsames Missgeschick hat Regierungsrat Justus Mall seine Stellung im bayerischen Justizministerium verloren und verbringt sein Leben jetzt als freiberuflicher Philosoph - nicht das Schlechteste für ihn. Per Blog versucht er, eine Unbekannte für sich zu gewinnen: "Kein festes Einkommen. Und trotzdem nicht arm. Und trotzdem nicht reich. Ich lebe gut, solang mir etwas einfällt, was nicht jedem einfällt."
Vergnügen am Erfinden der eigenen Wahrheit
"Die Lüge im Roman ist wunderbar. Sie ist eine Variation der Wahrheit", offenbarte Martin Walser seinem spät anerkannten Sohn Jakob Augstein. Erschienen sind die Gespräche zwischen Augstein, "Spiegel"-Kolumnist und Herausgeber der Wochenzeitung "Der Freitag", und Walser in "Das Leben wortwörtlich". Dieses Vergnügen am Erfinden seiner eigenen literarischen Wahrheit schwingt auch im neuesten Walser mit. Aber die Ausflüge in die fiktive Korrespondenz mit einer Unbekannten sind ermüdend in der fortwährenden Selbstbespiegelung seines literarischen Alter Egos Justus Mall. Es fehlt die Geschichte, und es fehlt eine Beziehung, die Spannung zwischen Mann und Frau.
Martin Walser korrespondiert nur mit sich selbst, es gibt kein Gegenüber. Die tagebuchähnlichen Eintragungen des zwangspensionierten Regierungsrates Justus Mall kreisen um das ewig Gleiche, das wir schon aus früheren Büchern kennen: Walser und die Frauen. Die Frauen und Walser.
Wieder und wieder versinkt sein Protagonist in Selbstmitleid, sucht Selbstbestätigung. Spaß zu lesen macht das nicht. "Vielleicht führt mein Brief an Sie, Frau Unbekannt, dazu, dass ich einsehe, wie unverständlich ich bin. Dann weiß ich, dass ich mich nicht ohne Grund einsam fühle: Wenn dir niemand mehr zustimmt, bist du allein."
Altherrenphantasien und steile Brüste
Und ganz unvermittelt bekennt sich der Autor Martin Walser mitten in seinem "Roman" als Bewunderer des US-amerikanischen Präsidenten: "1. April 2017. Ich habe Mr. Trump von Anfang an, seit er im Wahlkampf gegen Mrs. Clinton angetreten ist, auch als eine Belebung erlebt. Dass er Sätze gesagt hat, die peinlich sind, hat mich für ihn eingenommen."
Vielleicht inspiriert durch diese Sympathiekundgebung, wagt Walser in seinem aktuellen Buch unsägliche Ausflüge in eine Altherrenphantasie, die der Verlag uns Lesern gut und gerne hätte ersparen können: "... der unvergessliche Blick eines seine Brüste zelebrierenden Mädchens. Andauernd zieht sie das rutschende Leinenkleid über die sich sträubenden Hügel und schaut einen an, als wisse sie, was man, wenn man sie anschaut, denkt."
Auch "steile Brüste" kreuzen den Blick des Nähesuchenden. Am Schluss der erlösende Eintrag: "Kein Hilferuf mehr per Blog. Ich übergebe alles dem Papier. Und nenne es dann eben Roman."
"Durch Schreiben kann alles schön werden"
Warum er in seinem Alter noch Bücher schreibe, wurde Martin Walser zu seinem 90. Geburtstag von vielen Interviewern gefragt. Seine Antwort blieb im Ungefähren: "Jeder Roman wirft am Ende einen weißen Schatten. Mir wurde das zum ersten Mal bei Dostojewski deutlich. Warum lesen wir bei ihm noch die elendsten Szenen so gern? Weil die Wirklichkeit als geschriebene ihre Furchtbarkeit verliert", konstatierte er. "Ich habe erfahren, dass durch Schreiben alles schön werden kann", ließ Walser seine Leser wissen. Und so schreibt er sich die Welt, wie sie ihm gefällt - mit einer unbekannten Geliebten vor Augen.
Ob er denn ein politischer Schriftsteller sei, diese Frage seines Sohnes Jakob Augstein, beantwortete Walser in der eben genannten Interviewsammlung verblüffend selbstkritisch: "Aus der Summe meiner Erfahrungen heraus sage ich heute: Nein! Ich habe einen Teil meines Lebens im Dienst des Rechthabenmüssens verbracht. Ich war ein sogenannter Intellektueller, und als solcher war es meine Aufgabe, recht zu haben", gesteht Walser. "Ich zähle mich schon lange nicht mehr zu den Schriftstellern, die wissen, wie alles sein muss."
Inzwischen ist Martin Walser 91 Jahre alt, am 24. März 2018 hatte er Geburtstag. Was nichts an seiner Auseinandersetzungsfreude geändert hat. In der parallel zu seinem aktuellen Buch erscheinenden Interviewsammlung "Ich würde heute ungern sterben" spricht er über sein Schreiben, über seine Musen und über seine Feinde. Und er dreht immer wieder - wie man das von ihm gewohnt ist - das große "Rad der Geschichte". Er spricht dann über das Verhältnis von Welt und Literatur, über die deutsch-deutsche Geschichte, die Gruppe 47 im Speziellen als Teil der Bundesrepublik und die großen Zeitenwenden. Walser als Zeitzeuge und philosophischer Betrachter am Rande des politischen Geschehens.
"Komme zu dem Ergebnis, dass meine Hosenträger unsterblich sind"
Ein so prominenter Autor wie Martin Walser scheut auch nicht den Vergleich mit den wirklich großen Klassikern der Literaturgeschichte, wie er 2015 in einem Interview bekannte. "Goethe, zum Beispiel, hat an sich selber gedacht und kam zu dem Schluss, so etwas Großartiges wie er könne gar nicht untergehen, also müsse es schon allein deshalb eine Art von Unsterblichkeit geben. Aber wenn ich darüber nachdenke, komme ich nur zu dem Ergebnis, dass meine Hosenträger unsterblich sind."
Sein untergründiger Humor ist unverkennbar Walser. Aber die Grundierung seines literarischen Schaffens ist etwas anderes, eng verknüpft mit der Melancholie seiner Heimatregion, dem Bodensee. "Es gibt kein Glück ohne Unglück und umgekehrt, kein Unglück ohne Glück. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Ich nenne das Unglücksglück. Das ist mein Seinszustand. Um ihn zu erhalten, schreibe ich." Für einen Schriftsteller gilt das zeitlebens. Mehr ist dem nicht hinzuzufügen.