Der kleinste gemeinsame Nenner
28. Juni 2004Historische Gründe
Die konservative britische Zeitung "The Daily Telegraph" befürwortet die Berufung Barrosos und argumentiert dabei aus historischer Sicht: "Großbritannien sollte den Vorschlag zur Ernennung des portugiesischen Ministerpräsidenten Barroso unbedingt unterstützen. Portugal ist schon seit dem Vertrag von Windsor, unterzeichnet 1386, ein wahrer Freund Großbritanniens. Unsere Feinde waren immer auch Portugals Feinde. Das war zum Beispiel so zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als der damalige portugiesische Ministerpräsident im Parlament eine bewegende Rede hielt, in der er sagte, wenn sich Großbritannien im Krieg mit Deutschland befinde, dann gelte das auch für Portugal. Und so blieb es vor dem letzten Krieg im Irak, als Barroso Gastgeber des Azoren-Gipfels war, der die Koalition gegen Saddam Hussein begründete."
Verbündeter Blairs
Auch die britische Zeitung "The Times" unterstützt José Manuel Durão Barroso und verweist ebenfalls auf die guten Beziehungen zwischen England und Portugal: "Barroso war ein hilfreicher Verbündeter für Tony Blair - nicht nur im Irak-Krieg, in dem er die anglo-amerikanische Koalition unterstützte, sondern auch beim Thema wirtschaftliche Reformen in Europa. Er ist allemal besser als irgendein anonymes Individuum, wahrscheinlich wieder aus Luxemburg,rekrutiert vor allem deshalb, weil es jeder Kontroverse aus dem Weg geht und fließend Französisch spricht."
Ohrfeige
Das niederländische unabhängige "Algemeen Dagblad" ist dagegen entsetzt: "Die Entscheidung für ihn ist eine Ohrfeige für die Wähler. Barroso hat gerade eine historische Wahlniederlage erlitten. Sie beweist, dass er seine Politik schon daheim nicht deutlich machen kann. Warum sollte er das auf europäischer Ebene können? Wartet man da auf jemanden, der gegen den Wunsch seiner Wähler einen Krieg gegen den Irak unterstützt? (...) Dennoch ist jeder zufrieden. Deutschland erhält den Superkommissar für Wirtschaft, die Briten erhalten in Barroso einen Freund Amerikas und Frankreich kümmert es wenig, dass die Kommission weiter geschwächt wird - man setzt seine Vorstellungen ohnehin im Ministerrat durch. Kurz und bündig: das alte politische Spiel. Es ist bestürzend, dass dafür ein passionierter Europäer wie der Belgier Guy Verhofstadt abgelehnt wird."
Verhöhnung der Wähler
Die liberale dänische Tageszeitung "Politiken" sieht vor allem die Wähler verhöhnt: "Es hätte zur Europawahl klar sein müssen, wen die politischen Flügel in der EU als Kandidat bevorzugen. Dann hätten die Wähler ihre Meinung an der Stimmurne zum Ausdruck bringen können. (...) Es ist eine Verhöhnung der 342 Millionen Wähler, dass sie zur Wahl des europäischen Parlaments eingeladen werden, und wenige Wochen danach bestimmen die 25 Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen und völlig ohne Beteiligung der Bevölkerung über den wichtigsten EU-Politiker. Es muss gesichert werden, dass sich das nicht wiederholen kann."
Barroso bisher nicht aufgefallen
Die konservative österreichische Tageszeitung "Die Presse" kritisiert besonders die Auswahlkriterien zur Ernennung des EU-Kommissionspräsidenten: "Nicht der qualifizierteste, der kompetenteste Kandidat hat die besten Chancen in dem Gefeilsche, sondern derjenige, auf den sich die große Mehrheit einigen kann. Es sind Auswahlkriterien, die jeder modernen Politik spotten. Dieser kleinste gemeinsame Nenner soll nun also José Manuel Durão Barroso heißen, ein Portugiese, der bisher nicht weiter aufgefallen ist. Unter solchen Prämissen wird die EU wohl noch lange im Schatten der Großmächte agieren - sollte sie sich nicht schleunigst einer Reform an Haupt und Gliedern unterziehen."