Nawalny: Charité bestätigt Vergiftungsverdacht
24. August 2020Klinische Befunde deuteten "auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer" hin, sagte eine Sprecherin der Klinik. Die konkrete Substanz sei zwar noch nicht bekannt, die Wirkung des Giftstoffs jedoch mehrfach und in unabhängigen Laboren nachgewiesen worden. Nawalny werde nun mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Der Ausgang seiner Erkrankung bleibe unsicher und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, könnten zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.
Bundesregierung geht von Giftanschlag aus
Am Mittag hatte bereits der Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, man müsse "mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einem Giftanschlag ausgehen". Deshalb sei der besondere Schutz für Alexej Nawalny notwendig, sagte Sprecher Steffen Seibert in Berlin mit Blick darauf, dass der 44-Jährige Kreml-Kritiker in der Berliner Charité vom Bundeskriminalamt (BKA) bewacht wird. Im Gespräch der Fachbehörden sei entschieden worden, dem BKA diese Aufgabe zu übertragen. Für Vergiftungen habe es "in der jüngeren russischen Geschichte leider einige Verdachtsfälle", gegeben, fügte Seibert hinzu.
Seibert wies darauf hin, dass es "keine förmliche Einladung" der Bundeskanzlerin zur medizinischen Behandlung in Deutschland gebe. Angela Merkel habe lediglich ihre Bereitschaft erklärt, dem möglicherweise vergifteten Nawalny auf Wunsch der Familie die Einreise aus humanitären Gründen zu ermöglichen. Der Transport und die Behandlung seien jedoch privat organisiert worden.
Maas will Fall Nawalny noch nicht bewerten
Zurückhaltender äußerte sich Bundesaußenminister Heiko Maas in Kiew. Er wolle zur Ursache der Erkrankung Nawalnys noch keine Aussage treffen. "Ich gehöre zu denjenigen, die ihre Einschätzung auf Fakten basieren", sagte Maas bei einem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt. "Für den Fall Nawalny fehlen noch viele Fakten - medizinische, aber wahrscheinlich auch kriminologische, und die gilt es abzuwarten."
Ärzte in Omsk weisen Vorwürfe zurück
Die Ärzte, die Nawalny in der sibirischen Stadt Omsk erstbehandelt haben, wiesen auf einer Pressekonferenz erneut den Vorwurf zurück, sie hätten auf Anweisung Moskaus die Ursache der Erkrankung verschleiert und Nawalny bewusst lange in ihrem Krankenhaus behalten, um den späteren Nachweis von Gift zu erschweren.
"Auf uns wurde keinerlei Druck von außen, von Medizinern oder anderen Kräften ausgeübt", sagte Chefarzt Alexander Murachowski bei einer Online-Pressekonferenz. Mit großen Anstrengungen sei es ihnen gelungen, das Leben des Patienten zu retten.
Nawalny ist einer der schärfsten Widersacher des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Seine Stiftung deckte in den vergangenen Jahren immer wieder Fälle von Korruption und den luxuriösen Lebensstil von Mitgliedern der russischen Elite auf. Zuletzt befand er sich auf Wahlkampftour durchs Land, um den Sieg regierungsnaher Kandidaten bei Regionalwahlen im September zu verhindern. Er wurde in der Vergangenheit immer wieder festgenommen; mehrfach gab es körperliche Angriffe auf ihn. Nach seinem Zusammenbruch am vergangenen Donnerstag wurde er zunächst in einem Krankenhaus im sibirischen Omsk versorgt, am Wochenende aber in die Berliner Charité überstellt.
Die russischen Ärzte hatten in ihrer Diagnose eine "Stoffwechselstörung" als mögliche Ursache für den Zusammenbruch genannt. Der Verlegung Nawalnys nach Berlin stimmten sie erst nach längerem Zögern zu. Familie und Weggefährten halten die Diagnose für absurd. Nawalny habe bis zu dem Vorfall nie gesundheitliche Probleme gehabt.
qu/rb (rtr, dpa, afp)