Der Armenier-Komplex
1. Juni 2016Wenn es im politischen Berlin um das Schicksal hunderttausender Armenier zwischen 1915 und 1923 geht, die deportiert, ermordet wurden oder einfach verhungerten, dann kommt es auf die Genauigkeit der Formulierungen an. Das Wort Völkermord, Genozid hatten bislang nur wenige Abgeordnete in den Mund genommen. Die offizielle Position der Bundesregierung war die: Bedauern ja, aber von Genozid war nie die Rede - weder mündlich und schon gar schriftlich. Der Begriff Völkermord, das "böse V-Wort" war kontaminiert. Doch das ändert sich gerade. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht es nun aus und hatte sich schon vor einem Jahr mit Joachim Gauck, dem Bundespräsidenten, über die Wortwahl abgestimmt. Eine echte Sensation damals, im April 2015, anlässlich des Gedenkens der Massaker an den Armeniern vor genau 100 Jahren im Deutschen Bundestag. Das Umdenken in der Beurteilung dieser Geschichte des Grauens ließ lange auf sich warten.
Gründe für verbale Zurückhaltung gab es jahrzehntelang viele. Die SPD, traditionell tief verwurzelt im türkischen Migranten-Milieu, fürchtete schlicht um Wählerstimmen, sollte der Genozid an den Armeniern, der weltweit unter namhaften Historikern unumstritten ist, offizielle Haltung Deutschlands werden. In mehr als 20 Staaten ist der Völkermord an den Armeniern offizielle Lesart - darunter sind Frankreich und die Schweiz.
Doch Deutschland tat sich schwer mit dem Wort. Kurz: Das politische Berlin bewegte sich lange sehr vorsichtig auf dem diplomatisch verminten Terrain. Mit dem NATO-Partner Türkei wollte man es sich nicht verderben. Das gleiche galt auch für das Verhältnis zu den mehr als zwei Millionen Türken, die in Deutschland leben. Und dann ist da auch noch die deutsche Verstrickung in die armenische Katastrophe. Eine, die Entschädigungszahlungen nach sich ziehen könnte.
Das Osmanische Reich 1915
Vieles deutet darauf hin, dass das Schicksal der Armenier schon 1914 besiegelt war. Das osmanische Heer erlitt gegen Ende jenes Jahres eine verheerende Niederlage gegen russische Truppen. Schätzungen zufolge kamen zwischen 50.000 und 80.000 Türken bei dem schlecht vorbereiteten Winterfeldzug im westlichen Kaukasus ums Leben. Die Schlacht von Sarikamisch gilt als Auslöser des Völkermords. Die Türken machten die Armenier für die Niederlage verantwortlich, die aufseiten der Russen gekämpft haben sollen oder durch Freischärler-Aktionen gegen die Osmanen vorgegangen seien. Nach türkischer Lesart waren die Armenier die fünfte Kolonne Russlands, dessen Ziel es damals gewesen sei, ein Armenien als Pufferstaat zu errichten, um vom Kaukasus direkt zum Mittelmeer zu gelangen. So steht es bis heute in türkischen Schulbüchern.
Anfang des 20. Jahrhunderts leben die Armenier vornehmlich im Osten des Osmanischen Reiches. In vielen Regionen stellen die christlichen Armenier die größte ethnisch-religiöse Gruppe. Ein exklusives armenisches Siedungsgebiet oder gar ein Staat existieren allerdings nicht. Der im 19. und 20. Jahrhundert aufkommende Nationalismus ist bei den Armeniern weniger ausgeprägt als bei anderen Volksgruppen, die sich vom Sultan befreien wollen.
"Die armenischen Eliten setzten sich zumeist eher für die Einheit des Osmanischen Reiches ein", urteilt die Berliner Nahost-Historikerin Elke Hartmann. "Allerdings in einem pluralistisch organisierten, modernen Staat."
Doch das untergehende Osmanische Reich mündet in einen türkischen Nationalstaat zulasten der Völkervielfalt. Die besondere Tragik: Die Entstehung der modernen türkischen Republik beginnt mit dem Völkermord an den Armeniern.
"… in die Wüste, um ihre Kraft zu brechen."
Ende April 1915 lief in ganz Anatolien die Aktion "Verschickungen" an. Ein bemüht harmlos klingender Terminus aus der Welt der Beamten und Verwalter, der nichts anderes bedeutet als Deportation. Armenische Intellektuelle, politische und geistliche Vertreter wurden mit System von Konstantinopel, der osmanischen Hauptstadt, nach Anatolien deportiert und getötet. Als Grundlage diente ein erst nachträglich, am 27. Mai 1915 verabschiedetes Gesetz.
Als Vorwand muss die Behauptung herhalten, die Armenier planten eine landesweite Rebellion. Die für die Armenier vorgesehenen "neuen Siedlungsgebiete" sind die Wüsten Syriens und Mesopotamiens - unwirtliche Landstriche ohne jede Lebensgrundlage. Eine Augenzeugin hält in ihren Aufzeichnungen fest: "Man treibt sie in die Wüste. Und um ihre letzte Kraft zu brechen, führt man sie in tagelangen Wanderungen im Kreis herum." Zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier sollen damals ums Leben gekommen sein.
Das Deutsche Reich, der willige Helfer
Kein anderer Staat ist in das Schicksal der Armenier so verstrickt wie das Deutsche Reich - aus wirtschaftlichen und strategischen Interessen. Am 7. Juli 1915 schreibt Hans Freiherr von Wangenheim, der deutsche Botschafter in Konstantinopel per Telegramm an den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg: "Die Umstände und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten."
Die Deutschen sind ein wichtiger Verbündeter des kollabierenden Osmanischen Reiches, sie liefern Waffen, schicken Militärexperten, sie haben Interessen am Bosporus. Der Bau der Bagdad-Bahn, ein Projekt, so bedeutend wie das Apollo-Raumfahrt-Programm der Amerikaner in den 1960er Jahren, dient als Schlüssel im Kampf gegen die Briten im Orient.
Über die zahlreichen Konsulate im Osmanischen Reich ist Berlin über alle Details der Todesmärsche der Armenier informiert. Dokumente belegen das. Unter einen der vielen Briefe an das Reichskanzleramt, in dem das Morden des türkischen Verbündeten beschrieben ist, notiert Bethmann-Hollweg: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht."
Genozid - Streit um die Klassifizierung eines historischen Verbrechens
Trotz allem gehörte Deutschland bis jetzt zu den Ländern, die wie die USA und Israel, die Massaker nicht als Völkermord einstufen. Markus Meckel, SPD, hielt die deutsche Haltung lange für einen Skandal. Der Bundestag hatte sich vor elf Jahren zum 90. Jahrestag in einer gemeinsamen Erklärung für die "unrühmliche Rolle" entschuldigt. Von einer echten Mitschuld war aber keine Rede. Der zentrale Begriff des Völkermords taucht in dem Papier nicht auf. Joschka Fischer, damals Bundesaußenminister, hatte das per Veto zu verhindern gewusst. "Das kommt mir da nicht rein!", lautete sein finales Urteil nach langen Verhandlungen.