Der Anti-Cineast: Jean-Luc Godard wird 90
3. Dezember 2020Jean-Luc Godard geht es gut. "Vielleicht bekämpfen seine Zigarren alle Viren, auch den Coronavirus", scherzt sein Mitarbeiter Fabrice Aragano im Interview mit dem Schweizer Nachrichtenportal "nau.ch". Die Retrospektiven zu Ehren von Godard werden allerdings ohne ihn stattfinden müssen. Er bleibt lieber zu Hause.
In dem Schweizer Dorf, in das er sich seit den 1970er-Jahren zurückgezogen hat, brütet der unermüdliche Regisseur gerade über neue Filme nach. Zwei Projektskizzen liegen auf seinem Küchentisch, verrät Aragano. Für einen hätten gerade die ersten Dreharbeiten begonnen. Sein 90. Geburtstag kümmert Godard nicht weiter. Für den weltberühmten Filmemacher ist das nur ein Arbeitstag wie jeder andere.
Filme wie Jazzmusik: frei improvisiert
"Ich habe Filme gemacht wie Jazzmusiker: Man gibt sich ein Thema vor, man spielt, improvisiert - und irgendwie organisiert sich alles", sagt Jean-Luc Godard rückblickend über seine Anfänge.
Er gehörte in den 1960er-Jahren zu den Mitbegründern der französischen Nouvelle Vague, der "Neuen Welle" im französischen Kino, die bis heute mit Namen wie Eric Rohmer, Jacques Rivette, François Truffaut, Claude Chabrol und eben Jean-Luc Godard verbunden ist.
Sie alle waren zunächst Filmkritiker und arbeiteten damals für die Pariser Zeitschrift "Cahiers du Cinéma". Mit der konventionellen Erzählweise der althergebrachten Kinofilme konnten sie nichts anfangen.
Truffaut, Freund und intellektueller Sparringspartner von Godard, machte mit "Sie küssten und sie schlugen ihn" den Aufschlag: Der Kinofilm feierte 1959 Premiere in Cannes. Godards legendäres Werk "Außer Atem", das sich an den schwarz-weißen Gangsterfilmen amerikanischer Hollywood-Regisseure orientierte, folgte im Jahr darauf. Mit Handkamera statt mit aufwendigen Kamera-Aufbauten gedreht und in neuartiger, schneller Schnitttechnik montiert, machte der Film in Cannes Furore.
In den Filmen der Nouvelle Vague spiegelte sich das Lebensgefühl einer neuen Generation von Regisseuren wider. Sie wollten die Realität junger Leute auf der Leinwand sehen: lebensnah, unkonventionell und authentisch. In der Filmwelt war der Begriff schnell verankert - und auf immer eng mit Godard verbunden.
Lieber ins Kino, statt zur Uni
Jean-Luc Godard wurde am 3. Dezember 1930 in Paris geboren. Sein Vater war ein Schweizer Augenarzt. Jean-Luc wuchs mit seinen drei Geschwistern in der Heimat des Vaters auf, aber 1943 ging die Familie nach Frankreich zurück, wo er das Gymnasium besuchte. Drei Anläufe brauchte er fürs Abitur, immer hatte er anderes im Kopf.
Auch das Studium an der Sorbonne interessierte ihn nicht sonderlich. Seine Zeit verbrachte er lieber in den Filmkreisen und Intellektuellenzirkeln von Paris. Statt Vorlesungen zu besuchen, ging er jeden Tag ins Kino, was die Sperrung des väterlichen Wechsels zur Folge hatte.
Seinen Lebensunterhalt musste sich Godard jetzt mit Aushilfsjobs verdienen. Und er schrieb mit leidenschaftlicher Begeisterung Artikel für die Filmzeitschrift "Gazette du Cinéma". Eine Amerikareise 1950/51 stellte die Weichen für seine Zukunft: 1954 drehte er seinen ersten eigenen Film - eine kurze Dokumentation über ein gigantisches Staudammprojekt: "Opération Béton".
Vertrauen in den kreativen Moment
Mehr als 40 Spielfilme, zahlreiche Kurzfilme, experimentelle Dokumentarfilme, hochintellektuelle Essayfilme und Musikvideos hat Jean-Luc Godard im Laufe seines Filmschaffens produziert. Einige auch als Drehbuchautor oder Co-Regisseur mit seinen Nouvelle Vague-Mitstreitern.
Aber Godard blieb der radikalste Vertreter dieser neuen Art, moderne und auch gewagt freizügige Filme zu drehen. So philosophierte beispielsweise in Godards Film "Die Verachtung" der französische Filmstar Brigitte Bardot - in ihrer Rolle naiv und raffiniert zugleich - vor der Kamera, ob ihr Filmpartner ihren Po attraktiv finde - damals ein Skandal.
Für seine Filme verwendete der ewig Zigarre rauchende Regisseur nie Drehbücher. Vieles überließ er dem Zufall, Diskussionen am Set oder der Improvisationskraft seiner Schauspieler. Mit allen Größen des französischen Films hat er gedreht: Eddie Constantine, Alain Delon, Michel Piccoli, Yves Montand, Gerard Depardieu und Juliette Binoche.
Innovativ: Handkamera und Montage
Auch formal wagte Godard Neues. Seine filmischen Essays waren "ein Denken in Montageform", schrieb ein Filmkritiker der Tageszeitung "Frankfurter Rundschau" 2010, seine Montage sei assoziativ wie improvisierter Jazz. Godard war einer der ersten französischen Regisseure, der später in den 1970er-Jahren auch mit einer leichten, beweglichen Videokamera drehte.
1968 begleitete er die Rolling Stones bei der Studioproduktion ihres legendären Albums "Sympathy for the Devil". Bis heute ist "Eins plus Eins" von Godard ein Kultfilm, der Mick Jagger und die anderen Rockmusiker der Stones von einer sehr ungeschminkten, fast privaten Seite zeigt. Alle Songs wurden im Studio improvisiert. Dazwischen geschnitten: kurze Sequenzen über die Black Panther und die Demokratie-Bewegung in den USA.
Unter dem Eindruck der Studentenproteste im Mai 1968 in Paris schloss sich Jean-Luc Godard einer radikal marxistisch-leninistischen Filmgruppe an. Er politisierte seine Arbeit zunehmend und zerstritt sich darüber mit seinem Freund Truffaut. Danach "verschwand er im Kollektiv", drehte nur noch mit anderen zusammen, wie ein Filmkritiker damals notierte.
Neuanfang im internationalem Kino
1980 tauchte Godard wieder auf der Bildfläche der internationalen Kinofilme auf. "Rette sich, wer kann" mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle war zeitgleich auch ein programmatischer Neuanfang für den Regisseur. Daher bezeichnete er diesen wieder erzählerischen Spielfilm in einem Interview als "seinen zweiten ersten Film".
Die Goldene Palme in Cannes, der Europäische Filmpreis, der Ehren-Oscar - mit solchen öffentlichen Auszeichnungen kann Godard bis heute nichts anfangen. Nur bei der Verleihung des hochdotierten Praemium Imperiale, der als "Nobelpreis der Künste" gilt, hat er sich Schlips und Anzug angezogen.
Seinen 90. Geburtstag am 3. Dezember 2020 wird der legendäre Kino-Revolutionär vermutlich zu Hause in seinem idyllischen Schweizer Dorf verbringen. Zigarre rauchend, ganz ohne Feier. Wir gratulieren trotzdem!