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Jacques Rivette im Alter von 87 Jahren gestorben

Jochen Kürten29. Januar 2016

Mit Godard und Truffaut hob er die "Nouvelle Vague" aus der Taufe. Seine Filme zeichneten sich durch eine einzigartige verspielt-magische Ästhetik aus. Mit 87 Jahren ist Rivette jetzt gestorben.

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Frankreich Jacques Rivette Regisseur schwarz/weiß (Foto: Frankreich Jacques Rivette Regisseur schwarz/weiß (Foto: DAMIEN MEYER/AFP/Getty Images)
Bild: Getty Images/AFP/D. Meyer

"Paris gehört uns" hieß 1960 sein Spielfilm-Debüt. Der Titel war gut gewählt, traf er doch den Ton, den damals die jungen Wilden des französischen Kinos anschlugen. Selbstbewusst war dieser Ton - und ohne Scheu, der Vätergeneration des Kinos eins auszuwischen. Dazu frech und immer experimentierfreudig.

In Frankreich war die Wut über das behäbige Kino der Alten besonders groß. Hinweg mit den Konventionen hieß das Motto, Abschied nehmen von einem literarisch geprägten Altherrenkino der Nachkriegszeit. Rivette gehörte, neben Jean-Luc Godard, François Truffaut, Eric Rohmer und Claude Chabrol zum engsten Kreis derjenigen, die Ende der 1950er Jahre die Nouvelle Vague aus der Taufe hoben.

Rivettes Filme hatten Einfluß in ganz Europa

Diese Erneuerungsbewegung des Kinos spülte die Konventionen des alten, oft stillosen Nachkriegsfilms beiseite. Es war eine Filmrevolution, die nach und nach ganz Europa erfassen sollte. Später kamen auch die Deutschen dazu (Neuer Deutscher Film), die Briten (Free Cinema), viele osteuropäische Länder. Doch die Nouvelle Vague hatte den allersten Anstoß gegeben.

Paris Gehört Uns - Filmstill Jean-Claude Brialy und Betty Schneider im Debüt "paris gehört uns" (Foto: picture alliance / United Archives)
Jean-Claude Brialy und Betty Schneider im Debüt "Paris gehört uns"Bild: picture alliance / United Archives

Und Jacques Rivette war einer der entscheidenden Initiatoren dieser Film-Revolution, stand in deren Zentrum. Wie Truffaut und Rohmer war auch der 1928 in Rouen geborene Rivette durch das Schreiben übers Kino zum Film gekommen. Mitte der 1960er Jahre war er sogar eine Zeitlang Chefredakteur der legendären Zeitschrift "Cahiers du Cinema", vertrat dort seine Thesen zur siebten Kunst und setzte sich für viele verkannte Regisseure ein - vor allem auch aus Hollywood.

Beim Schreiben blieb es nicht. Wie die Kollegen sattelte Rivette um, drehte nach seinem Erstling "Paris gehört uns" ab Mitte der '60er Jahre kontinuierlich. Doch seine Filme und seine Arbeit hinter der Kamera folgten einem ganz eigenen Rhythmus, was vor allem mit der Länge der Werke zu tun hatte. Nicht selten überschritten sie eine Spieldauer von mehreren Stunden. Auch deswegen hat Rivette während seiner über ein halbes Jahrhundert andauernden Regiekarriere nicht mehr als 20 Filme gedreht.

Rivette: Improvisation als stilistisches Merkmal

Rivette-Filme waren immer anders als die seiner Kollegen. Der Regisseur verfasste kaum fertige Drehbücher, sondern nur Skizzen, die er dann mit seinen Schauspielern und dem technischen Stab vor und hinter der Kamera improvisierte. Der Zuschauer wurde dadurch sogartig hineingezogen in das Geschehen. Er verfolgte das Spiel der Darsteller, war sich aber trotzdem immer bewusst, dass er im Kino saß und das Gesehene auf der Leinwand ein Kunstwerk war. Eine eigentümliche Mischung, der man sich kaum entziehen konnte.

Frankreich Jacques Rivette Regisseur schwarz/weiß (Foto: DAMIEN MEYER/AFP/Getty Images)
Jacques Rivette (1928 - 2016)Bild: Getty Images/AFP/D. Meyer

In seinen besten Filmen aus der frühen Phase des Regisseurs - "Céline und Julie fahren Boot" (1974, mit seinen bevorzugten Darstellerinnen Bulle Ogier und Juliet Berto) oder "Merry-Go-Round" (1981) - erlebte man im Kino etwas Einmaliges, Unvergleichliches: ein ganz neues Seherlebnis. Und doch war es nicht nur ein intellektuelles Spiel, das der Franzose dem Publikum bot. Schauplätze, Schauspieler, die oft magische Handlung - all das trug dazu bei, dass Rivette-Filme immer auch ein ungemein sinnliches Vergnügen sein konnten.

Zwischendurch trieb er seine filmischen Reisen auf die Spitze: Sein Werk "Out 1: Noli me tangere" (1970) dauerte fast 13 Stunden und gilt als einer der längsten Spielfilme der Kinogeschichte. Der Film wurde meist in mehreren Teilen gezeigt, vor allem im Fernsehen. Deutsche TV-Redakteure kümmerten sich später um die Restaurierung und Wiederaufführung. Doch anders als bei seinen "kürzeren" Filmen konnten ihm die Zuschauer bei diesen ausufernden Film-Erzählungen nicht immer folgen.

Meisterliches Kino: "Die schöne Querulantin" nach Balzac

Das Spiel aus filmischem Experiment und Improvisation, aus Phantasie und Dokument, führte Rivette in seinem Meisterwerk "Die schöne Querulantin" (1991) zur Vollendung. Der fast vierstündige Film mit Michel Piccoli, Jane Birkin und Emmanuelle Béart fußt auf der Erzählung "Das unbekannte Meisterwerk" von Honoré de Balzac. Der Zuschauer sieht zu, wie ein Maler (Michel Piccoli) nach langer Zeit wieder zu Zeichenstift und Pinsel greift und dabei in immer tiefere Schichten der menschlichen Seele eindringt: ein aufregender Film über Kunst und Leben. In Cannes gab es dafür den Großen Preis der Jury.

Die schöne Querulantin Filmstill (Foto: dpa)
"Die schöne Querulantin" mit Emmanuelle Béart und Michel PiccoliBild: picture-alliance/dpa

In späteren Filmen variierte Rivette seine Themen, spielte oft mit theaterhaften Momenten, verschränkte Fiktion und Wirklichkeit, mischte Phantasie mit Realität. Doch Rivette konnte auch anders. Schon sein zweiter Film "Die Nonne" nach Denis Diderot (1966), der neben Hauptdarstellerin Anna Karina originellerweise Liselotte Pulver auftreten ließ, war von der filmischen Konzeption strenger und zurückhaltender. Der Film löste nach seiner Premiere einen Skandal aus, weil Rivette die Themen Religion, Kirche und Sexualität ohne Scheu ausgebreitet hatte. "Die Nonne" stand zeitweise auf dem Index und durfte in Frankreich nicht gezeigt werden.

Später überraschte Rivette noch mit einer kritischen "Jeanne d'Arc"-Filmbiografie (1994) und der verspielten und auch humoristischen Literaturverfilmung "Die Herzogin von Langeais" (2007). Bis ins hohe Alter arbeitete der Regisseur, brachte noch 2009 den Film "36 Ansichten des Pic Saint-Loup" in die Kinos. Jetzt ist Jacques Rivette, einer der ganz großen Regisseure des europäischen Kinos, im Alter von 87 Jahren gestorben. Die französische Tageszeitung "Le Monde" schrieb: "Jacques Rivette nimmt sein Mysterium mit ins Grab".