Filmwunder: Jacques Rivettes "Out1"
30. September 2013Es geschieht nicht gerade häufig, dass sich die große Filmnation Frankreich bei seinen Nachbarn aus Deutschland bedanken muss. Im Gegensatz zur "Grande Nation" hat das Kino, was Ansehen und Traditionspflege betrifft, in Deutschland immer noch einiges nachzuholen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Jacques Rivettes Film "Out1 - Noli me tangere" heute in seiner vollständigen Fassung nur deshalb vorliegt, weil sich die Filmredaktion des Westdeutschen Rundfunks schon früh um dieses Werk bemühte.
Rivette war in den 1960er Jahren einer der Regisseure, die zum Kreis der Nouvelle Vague gehörten. Gemeinsam mit Jean-Luc Godard und François Truffaut François stritt er für einen radikalen Neuanfang. Die Nouvelle Vague brach damals mit allen Kinokonventionen und eröffnete dem Medium neue Wege und inhaltliche Perspektiven. Rivettes vierter Spielfilm "Out1" ist aber selbst vor diesem Hintergrund ein denkwürdiges, weil schwieriges und außergewöhnliches Werk.
"Out1" wurde nach seiner Fertigstellung nur ein einziges Mal im Kino aufgeführt, 1971 in Le Havre" und verschwand dann für viele Jahre in den Archiven. Erst 20 Jahre später ermöglichte es die Filmredaktion des WDR dem französischen Regisseur das Werk in seiner endgültigen Fassung zu vollenden. Diese Version lief dann auf einigen Festivals und Anfang der '90er Jahre auch im deutschen Fernsehen. Eine vom Regisseur geschnittene "Kurzfassung" (253 Minuten) war 1973 bei den Berliner Filmfestspielen zu sehen.
Nach dieser Aufführungsphase verschwand "Out1" erneut. Jetzt ist der Film - wiederum dank der Bemühungen deutscher Filmexperten - auf DVD erschienen. Die Edition enthält die Lang- und Kurzfassung sowie zahlreiche Interviews und weiteres Hintergrundmaterial - eine filmhistorische Großtat zweifelsohne. In Zeiten, in denen amerikanische Fernsehserien vor allem auch in deutschen Wohnzimmern Triumphe feiern, hat man nun also Gelegenheit, eine Art französischen Vorläufer zu sehen.
Doch Vorsicht! "Out1" ist alles andere als leicht konsumierbare Serienkost. Die Handlung kann man nur grob umreißen: Zwei Theatergruppen proben jeweils mit unterschiedlichen Ansätzen Bühnenstücke von Aischylos. In zwei weiteren Handlungssträngen verfolgt der Zuschauer einen jungen Mann (gespielt von der Nouvelle Vague-Ikone Jean-Pierre Léaud), der in Bistros und auf der Straße als stummer Bettler auftritt und die Gäste mit Mundharmonika-Attacken belästigt, um an Geld zu kommen. Und wir sehen einer jungen Frau (Juliet Berto) dabei zu, wie sie ebenfalls zu Geld kommen will: indem sie fremden Leuten die phantastischsten Geschichten aus ihrem Privatleben erzählt.
Doch "Out1" ist kein konventioneller Spielfilm, sondern vielmehr ein sehr lose geknüpfter Reigen aus Spielszenen, Improvisationen, quasidokumentarischen Sequenzen und vielen versteckten Zitaten, wobei insbesondere ein Text von Honoré de Balzac eine Rolle spielt. Jacques Rivette: "Out ist ein Film, in dem die Personen sich aufeinander zu bewegen, ohne sich wirklich zu berühren. Sobald sie sich nahekommen, entsteht wie in der Elektrizität so etwas wie ein Gegenstrom, der sie sofort auseinanderbringt. Es gibt viele Momente des Aufeinanderzugehens in dem Film, die jedoch immer, fast immer, unterbrochen werden: Noli me tangere - berühre mich nicht."
Zweifellos muss man sich auf das gleichzeitig monumentale wie minimalistische filmische Experiment des großen französischen Regisseurs geduldig einlassen. Man wird belohnt mit einer Reise in Filmwelten, die abseits jeglicher Kinokonvention liegen, deren Wege immer wieder überraschen und verstören. Jacques Rivettes "Out1" ist Abenteuerkino der ganz besonderen Art. Intellektuell, aber auch märchenhaft: sehr französisch.
Jacques Rivette: Out 1 - Noli me tangere, erschienen beim Anbieter "Absolut Medien", DVD-Box mit vier DVDs und einem ausführlichen Booklet.